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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Schornsteinen, die heimatlichen Aromen, sie vermischten sich mit dem Gewürz und schrillen Illit Ul Qomas, dem Rattern eines Militsya kopters, dem sonoren Röhren von Autos aus deutscher Fabrikation. Die Farben der Schaufensterbeleuchtung und -dekoration Ul Qomas verfälschten nicht länger die Ocker- und Steingrauschattierungen seines Nachbarn, meiner Heimat.
    »Wo sind Sie?«, fragte Ashil. Er sprach so leise, dass nur ich ihn hören konnte.
    »Ich ...«
    »Sind Sie in Besźel oder in Ul Qoma?«
    »... Weder noch. Ich bin im Grenzbruch.«
    »Sie sind mit mir hier.« Wir bewegten uns durch gemischtes morgendliches Gedränge. »Im Grenzbruch. Keiner weiß, ob er uns sieht oder nichtsieht. Fassen Sie sich. Sie sind nicht in keiner der Städte, Sie sind in beiden.«
    Er tippte mir gegen die Brust. »Atmen.«
 
    Wir fuhren mit der Metro nach Ul Qoma hinein - ich still auf meinem Platz, als hafteten die Reste Besźels spinnwebgleich an mir und könnten Mitfahrende erschrecken -, stiegen um in eine Tram in Besźel, und es fühlte sich gut an, wie Nachhausekommen. Illusion. Weiter ging es zu Fuß, durch beide Städte. Das Heimatgefühl Besźels wurde verdrängt von einer dominierenden Fremdheit. Vor der Glas- und Stahlfassade der UQ-Universitätsbibliothek blieben wir stehen.
    »Was würden Sie tun, wenn ich jetzt fliehe?«, erkundigte ich mich. Er würdigte die Frage keiner Antwort.
    Ashil zog ein neutrales Lederetui heraus und zeigte dem Portier das Petschaft von Ahndung. Der Mann starrte es sekundenlang an, dann sprang er auf wie von der Tarantel gestochen.
    »Mein Gott«, stöhnte er. Er war Immigrant, aus der Türkei, nach dem Akzent seines Illit zu urteilen, doch lebte er schon lange genug hier, um zu begreifen, was er sah. »Ich, Sie, was kann ich ...?« Ashil bedeutete ihm, sich wieder auf seinen Stuhl zu setzen, und ging weiter.
    Die Bibliothek war neuer als ihr Gegenstück in Besźel. »Das Buch wird keine Signatur haben.«
    »Das ist der Punkt.« Wir studierten den Lageplan und die Zeichenerklärung. Die Geschichte Besźels respektive Ul Qomas, separat aufgelistet, doch reinräumlich auf den Regalen nebeneinander eingeordnet, war im vierten Stock untergebracht. Die Studenten in ihren Carrels schauten Ashil an, wenn er vorüberging. Er strahlte eine Autorität aus, die anders war als die von Eltern oder Tutoren.
    Viele der Titel, vor denen wir standen, waren nicht übersetzt, sondern nur in der Originalfassung in Englisch oder Französisch vorhanden. Die Geheimnisse des Präkursor-Zeitalters, Besźel, Ul Qoma und Maritime Semiotik. Die Suche dauerte etliche Minuten - der Regale waren viele. Fündig wurde ich endlich auf dem zweituntersten Brett von oben, drei Reihen zurück vom Hauptgang. Ich drängte mich mit der Miene einer Autoritätsperson an einem verdutzten Erstsemester vorbei, und da war es: ein Buch ohne die übliche Signatur unten auf dem Rücken.
    »Hier.« Die gleiche Ausgabe, die ich gehabt hatte. Die psychedelische Umschlagillustration à la Pforten der Wahrnehmung mit dem langmähnigen Kerl auf der Straße, die ein Mischmasch aus zwei verschiedenen (und falschen) Baustilen war und aus deren Schatten Augenpaare ihn belauerten. Ich öffnete es in der Gegenwart von Ashil. Zwischen der Stadt und der Stadt. Sichtbar abgenutzt.
    »Wenn das alles stimmt«, sagte ich ruhig, »dann werden wir beobachtet. Sie und ich, jetzt in diesem Moment.« Ich zeigte auf eins der Augenpaare in der Illustration.
    Ich ließ die Blätter unter dem Daumennagel vorschnellen. Tintenfarben flackerten, die meisten Seiten waren umrankt von Anmerkungen in winzig kleiner Schrift: rot, schwarz und blau. Mahalia hatte mit extrafeiner Spitze geschrieben, und ihre Notizen sahen aus wie Haare, die sich auf jedem bisschen freien Raum wirrten, in Jahren gewachsene Kommentierung der okkulten These. Ich schaute mich um und sah aus dem Augenwinkel Ashil das Gleiche tun. Niemand da.
    NEIN, lasen wir in ihrer Handschrift. GANZ UND GAR NICHT und WIRKLICH? VGL. HARRIS ET AL und VERRÜCKT!! HIRNRISSIG!!! und so weiter. Ashil nahm mir das Buch aus der Hand.
    »Mahalia hat Orciny studiert, gründlicher und ernsthafter als sonst jemand vor ihr«, sagte ich. »Zwischen diesen Buchdeckeln finden wir die Wahrheit über die dritte Stadt.«

25. Kapitel
 
    »Beide haben in Erfahrung zu bringen versucht, was Ihnen zugestoßen ist«, berichtete Ashil. »Corwi und Dhatt.«
    »Was habt ihr ihnen gesagt?«
    Ein Blick: Wir sprechen nicht mit ihnen. Noch am

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