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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Abend brachte er mir eine Farbkopie, gebunden, von jeder einzelnen Seite, plus der Einbanddeckel innen/außen, von Mahalias Zwischen. Das war ihr Notizbuch.
    Einen bestimmten Gedankengang zu selektieren und von einer mit Marginalien gespickten Seite zur anderen zu verfolgen, artete schnell in Arbeit aus, doch ich unterzog mich der Konzentrationsübung, und es gelang mir, jede ihrer Schlussfolgerungen nachzuvollziehen.
    Am selben Abend unternahm Ashil mit mir einen Spaziergang durch das Sowohl-Als-Auch, in dem ich mich nun zurechtfinden musste. Die Schwünge und Bögen qomanischer Byzanterie über- und umragen die weniger hohen mitteleuropäischen und mittelhistorischen Backsteingebäude Besźels mit ihren Halbreliefs von verschleierten Frauen und Bombardieren; der Duft von Besźels gedünsteten Speisen und Schwarzbrot vermischt sich mit dem heißen Gewürzatem Ul Qomas; Farben von Licht und Kleidung umspielen Grau-und Basaltvariationen; Geräusche nun plötzlich von zweierlei Art, weiches Schwa-Arpeggio und kehliges Glucksen. Statt in zwei Städten zugleich, in Besźel und Ul Qoma, kam ich mir vor wie an einem dritten Ort, Keins-Beide, entgrenzt.
    Die Menschen, in beiden Städten, wirkten gehetzt. Wir waren nicht zu dem Gebäude zurückgekehrt, in dem meine Befragung stattgefunden hatte - es lag in Rusai Bey in Ul Qoma oder TushasProspekta in Besźel, hatte ich nachträglich herausgefunden. Stattdessen waren wir gewissermaßen eine Tür weiter gegangen, zu einem mittelständischen Wohnblock mit Hausmeister im Parterre, nicht weit entfernt von dem Stützpunkt, den ich bereits kannte. In der obersten Etage erstreckten sich die Räumlichkeiten über bestimmt zwei oder drei Gebäude, und in diesem weitverzweigten Bau lebte und webte Ahndung. Es gab anonyme Schlafzimmer, Küchen, Büros, veraltet aussehende Computer, Telefone, verschlossene Aktenschränke. Kurz angebundene Männer und Frauen.
    Im Prozess des Zusammenwachsens beider Städte waren Leer-Räume entstanden, herrenlose Flächen, umstrittene Dissensi. Diese besiedelte Ahndung.
    »Und wenn bei euch eingebrochen wird? Noch nie passiert?«
    »Von Zeit zu Zeit.«
    »Dann ...«
    »Dann sind sie im Grenzbruch und unter unserer Jurisdiktion.«
    Die Frauen und Männer entwickelten Bienenfleiß, ihre Gespräche fluktuierten zwischen Besź, Illit und der dritten Form. Das mir von Ashil zugewiesene unpersönliche Schlafzimmer hatte Gitterstäbe vor dem Fenster, garantiert ebenfalls eine versteckte Kamera sowie WC en suite. Nachdem Ashil mir alles gezeigt hatte, machte er keine Anstalten zu gehen. Zwei, drei weitere Ahnder gesellten sich zu uns.
    »Seht euch das alles an«, sagte ich. »Ihr seid der schlagende Beweis dafür, dass Orciny kein Fantasiegebilde sein muss.« Die Zwischenräumlichkeit, für die meisten Bürger sowohl Besźels als auch Ul Qomas der Hauptgrund, die Vorstellung von Orciny für absurd zu halten, war nicht nur möglich, sondern unabdingbar. Weshalb weigerte ausgerechnet Ahndung sich zu glauben, dass in dieser schmalen Kluft Leben möglich war? Mittlerweile war die Angst umgeschlagen in: Wo sind sie? Wer sind sie? Wir haben sie nie gesehen, eine Furcht anderer Art mit Anflügen von Verfolgungswahn.
    »Es kann nicht sein«, beharrte Ashil.
    »Oder darf nicht? Fragt eure Vorgesetzten. Fragt den großen Zampano oder was weiß ich.« Welche anderen überoder untergeordneten Mächte existierten hier im Grenzbruch? »Ihr wisst, dass wir beobachtet werden. Oder sie wurden beobachtet - Mahalia, Yolanda, Bowden - von irgendetwas irgendwo.«
    »Bei dem Schützen fanden sich keinerlei Beweise für Ihre These.« Ein Einwurf von einem der anderen, in Illit.
    »Meinetwegen.« Ich zuckte die Achseln und sprach weiter in Besź. »Dann war er also nichts weiter als ein beliebiger radikaler Rechter mit sehr viel Dusel. Wenn ihr das sagt. Oder favorisiert man in eurem Verein die Theorie von einer Zwischler-Verschwörung?« Keiner fühlte sich berufen, die Existenz der sagenhaften, von beiden Städten schmarotzenden Bewohner des Interstitiums zu leugnen. »Sie haben Mahalia benutzt, und nachdem sie erreicht hatten, was sie wollten, musste sie sterben? Sie haben Yolanda ermordet, und zwar sehr überlegt auf eine Art, dass sie euch keine Handhabe geben, einzugreifen. Als wäre Ahndung das, was sie in Besźel, Ul Qoma, der ganzen weiten Welt am meisten fürchten.«
    »Aber«, eine Frau zeigte auf mich, »vergessen wir nicht, was Sie getan haben.«
    »Grenzbruch begangen?«

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