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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Ich hatte ihnen den Weg geebnet in diesen Krieg, oder wie man es nennen sollte. »Ja, ja. Was kann Mahalia gewusst haben? Sie hat herausgefunden, was sie planen. Man hat die Mitwisserin beseitigt.« Durch das Fenster strömten die sich überlagernden Lichter von Ul Qoma und Besźel. Ich saß in dem geisterhaften Schein und äußerte meine ominöse Schlussfolgerung vor einer wachsenden Zahl eulengleich starrender Gesichter.
    Die Nacht verbrachte ich als Gefangener hinter verschlossener Tür. Ich vergrub mich in Mahalias Notizen. Nach und nach gelang es mir, einzelne Argumentationsketten auszumachen, wenn auch nicht chronologisch von Seite zu Seite geführt - die Notizen bildeten Schichten, ein Palimpsest evolvierender Interpretationen. Ich betrieb Archäologie.
    Zu Anfang, in der untersten Schicht, war Mahalias Schrift sauberer, waren die Anmerkungen länger und ausformuliert und mit zahlreichen Querverweisen zu anderen Autoren oder ihren eigenen Aufsätzen versehen. Ihr Idiolekt und die unorthodoxen Abkürzungen erschwerten das Verständnis. Ich nahm mir Seite um Seite vor, versuchte, die frühen Überlegungen nachzuvollziehen, zu transkribieren. Was sich am deutlichsten manifestierte, war ihr Zorn.
    Mir kam ein Etwas zu Bewusstsein, das sich über die nächtlichen Straßen breitete. Liebend gern hätte ich mich mit Freunden, Kollegen in Besźel oder Ul Qoma ausgetauscht, aber ich konnte nur beobachten.
    Ob nun unsichtbare graue Eminenzen in den Tiefen von Grenzbruch die Entscheidungen trafen oder nicht, es war Ashil, der am nächsten Morgen hereinkam und mich über Mahalias Buch gebeugt fand. Er führte mich zu einem Büro am Ende eines langen Flurs. Ich erwog, mein Heil in der Flucht zu suchen -momentan fühlte ich keine Augen auf mir ruhen. Nun ja, vermutlich trog mich mein Gefühl, und wenn nicht, wohin sollte ich mich wenden als von Ahndung gejagter Flüchtling?
    Ungefähr zwölf Ahnder befanden sich in dem kleinen Zimmer. Sie saßen, standen, lehnten an Schreibtischen, unterhielten sich mit gedämpfter Stimme in zwei, drei Sprachen. Eine in vollem Gang befindliche Dienstbesprechung? Weshalb wollte man mich dabeihaben?
    »... Gosharian sagt, es war nichts, er hat grade angerufen ...«
    »Und die SusurStrász? Wie sieht es da aus? Hieß es nicht ...?«
    »Schon, aber alle sind da, wo sie hingehören.«
    Eine Krisensitzung. Halblauter Wortschwall in Sprechmuscheln, schnelle Überprüfungen von Listen. Ashil bemerkte zu mir: »Die Dinge geraten in Bewegung.« Noch mehr Leute kamen herein und vermehrten das Stimmengewirr.
    »Was nun?« Die Frage einer jungen Frau mit dem traditionellen Kopftuch einer konservativen Besź-Familie war an mich gerichtet, Gefangener, Angeklagter, Berater. Ich erkannte sie wieder vom Abend vorher. Schweigen ging durchs Zimmer, ließ sich selbst zurück mit all den Leuten, die mich erwartungsvoll anschauten. »Schildern Sie uns noch einmal, wie das mit Mahalia gewesen ist«, verlangte sie.
    »Versucht ihr, Orciny einzukreisen?« Ich konnte ihr keine Tipps geben, auch wenn etwas - die entscheidende Erkenntnis? - zum Greifen nahe schien.
    Sie setzten ihre Diskussion fort, Argumente flogen hin und her wie Pingpongbälle, Handzeichen, Slang, mir unverständlich. Aber ich konnte erkennen, dass verschiedene Meinungen aufeinanderprallten, und bemühte mich herauszuhören, was zur Debatte stand - diese oder jene Strategie, welche Richtung eingeschlagen werden sollte. In Abständen verkündete jeder im Zimmer etwas endgültig Klingendes und hob/hob nicht die Hand und schaute durchs Zimmer, um zu zählen, wie viele seiner Kollegen was taten.
    »Wir müssen verstehen, was uns an diesen Punkt gebracht hat«, sagte Ashil. »Was würden Sie tun, um herauszufinden, was Mahalia wusste?« Seine Kollegen ereiferten sich, schnitten sich gegenseitig das Wort ab. Mir fiel ein, was Jaris und Yolanda erzählt hatten: dass Mahalia kurz vor ihrem Tod sehr verärgert und frustriert gewesen war. Ich setzte mich mit einem Ruck kerzengerade hin.
    »Was ist?«, fragte Ashil.
    »Wir müssen zur Grabungsstätte«, sagte ich. Er betrachtete mich forschend.
    »Tye mit ins Boot«, sagte Ashil. »Wer ist dafür?« Drei Viertel der Anwesenden hoben die Hand.
    »Meine Meinung kennt ihr«, äußerte die Kopftuch-Frau. Ihre Hand war unten geblieben.
    »Gehört«, nickte Ashil. »Aber.« Sein ausgestreckter Finger führte ihre Augen durchs Zimmer. Sie war überstimmt.
    Ashil und ich machten uns auf den Weg. Sie war dort draußen,

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