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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Ich öffnete die Schubladen, oben beginnend, eine nach der anderen und betrachtete die säuberlich geordneten Objekte, jedes in seinem eigenen kleinen Haus, seinem Kästchen aus Styropor. Ashil stellte sich neben mich und schaute in die letzte herausgezogene Lade, als wäre sie eine Teetasse und die Artefakte Teeblätter, aus denen man wahrsagen konnte.
    »Wer schließt abends ab?«, fragte er.
    »Ich, jemand anders, kommt drauf an.« Buidzes Furcht ließ nach, aber ich glaubte nicht, dass er schon wieder mutig genug war, uns anzulügen. »Egal. Sie wechseln sich ab. Wer ohnehin länger arbeiten will. Es gibt einen Plan, aber an den hält sich kein Mensch ...«
    »Wenn sie den Schlüssel ausgehändigt haben, verlassen sie das Gelände?«
    »Ja.«
    »Sofort?«
    »Ja. Meistens. Vielleicht gehen sie noch auf einen Sprung ins Büro oder unternehmen einen Spaziergang, aber meistens haben sie's eilig, in die Stadt zu kommen. Feierabend eben.«
    »Spaziergang? Auf dem Gelände?«
    »Außerhalb der eigentlichen Ausgrabung ist es ein Park. Angenehm.« Er zuckte hilflos die Schultern. »Weg können sie nicht, nach ein paar Metern ist er extern. Sie müssen auf demselben Weg zurückkommen und das Gelände durchs Haupttor verlassen. Und dort werden sie nochmals kontrolliert.«
    »Wann hat Mahalia zum letzten Mal abgeschlossen?«
    »Keine Ahnung. Dauernd ...«
    »Das letzte Mal.«
    »... Kurz bevor sie verschwunden ist, am selben Abend.«
    »Ich brauche eine Liste, aus der hervorgeht, wer wann den Schlüssel gehabt hat.«
    »Unmöglich! Es gibt eine, aber wie gesagt, die halbe Zeit tun sie sich gegenseitig einen Gefallen ...«
    Ich zog die untersten Schubladen auf. Zwischen den winzigen, kruden Figürchen, den ziselierten Präkursor-Lingams und altertümlichen Pipetten, lag eingewickelt Fragiles. Ich betastete die Gegenstände vorsichtig.
    »Die sind alt.« Buidze beobachtete mein Tun missbilligend. »Wurden vor einer Ewigkeit ausgebuddelt.«
    »Aha.« Ich entzifferte die Etiketten. Sie waren ganz zu Anfang der Grabungen aus der Erde geholt worden. Die Tür ging. Ich drehte mich um und sah Professor Nancy eintreten. Sie blieb ruckartig stehen, schaute Ashil an, dann mich. Sie öffnete den Mund. Sie lebte seit vielen Jahren in Ul Qoma und hatte gelernt, die relevanten Details wahrzunehmen. »Professor«, grüßte ich. Sie nickte. Sie tauschte einen Blick mit Buidze, nickte auch ihm zu und schob sich rückwärts wieder hinaus.
    »Wenn Mahalia Schlüsseldienst hatte, hat sie nach dem Abschließen regelmäßig noch einen kleinen Spaziergang gemacht, richtig?«, fragte ich. Buidze hob verwirrt die Achseln. »Sie hat sich erbötig gemacht, abzuschließen, auch wenn sie gar nicht an der Reihe war. Öfter als die anderen.« Sämtliche Artefakte ruhten in ihren weichen Nestern. Ich tastete die Umrisse ab, behutsam, aber wahrscheinlich doch ohne das gewünschte Fingerspitzengefühl.
    Buidze bewegte sich unruhig, doch er wagte nicht, mich zu hindern. In den hinteren Reihen der dritten Schublade von unten, bei den Dingen, die immer noch vor einem Jahr zu Tage gefördert worden waren, gab eins der eingewickelten Objekte unter meinen Fingern nach - etwas zu sehr, für meinen Geschmack. »Eigentlich ist vorgeschrieben, dass man Handschuhe tragen soll«, bemerkte Buidze.
    Ich nahm das Päckchen, fand unter dem Stoff ein Stück zusammengeknülltes Zeitungspapier und in dem Zeitungspapier ein Stück Holz mit Farbresten und Hinweisen auf Befestigungsschrauben. Weder antik noch geschnitzt: ein Stück von einer heutigen Tür, ein absolutes Nichts.
    Buidze riss die Augen auf. Ich hielt das Holzstück hoch. »Welche Dynastie?«, fragte ich.
    »Nicht.« Ashil schüttelte tadelnd den Kopf. Er folgte mir nach draußen. Buidze kam hinter uns her.
    »Ich bin Mahalia«, sagte ich. »Ich habe eben abgeschlossen. Ich habe mich freiwillig gemeldet, obwohl jemand anders an der Reihe gewesen wäre. Jetzt wie üblich noch eine Runde durch den Park.«
    Von mir geführt, marschierten wir ins Freie, vorbei an der akribisch angelegten Grube, aus der heraus die fragenden Blicke der Studenten uns folgten, weiter in die Wildnis mit den historischen Trümmern und dahinter durch die Pforte, die sich für einen Universitätsausweis öffnete und für uns. Weil wir waren, wo und was wir waren. Mit einem Stein verhinderten wir, dass sie zufiel, und gingen in den winterlichen Park hinein. Nicht besonders lauschig zu dieser Jahreszeit und in unmittelbarer Nachbarschaft des

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