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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Abgeordneter.«
    »Vielen Dank für den Hinweis. Finde ich darin auch die Fakten, die belegen, dass es sich wirklich um einen Fall von Grenzbruch handelt?« Yorj Syedr sprach mit einer leisen, kultivierten Stimme, wie ich sie von einem Militär nicht erwartet hätte. Ihm gegenüber steckten einige Abgeordnete aus Ul Qoma flüsternd die Köpfe zusammen. Offenbar hatte sein Einwurf bei ihnen eine Diskussion angeregt. Ich schaute ihn an. Buric neben ihm verdrehte die Augen, merkte, dass ich es merkte.
    »Major Syedr, Sie müssen entschuldigen«, sagte ich endlich. »Ich weiß nicht recht, was ich Ihnen darauf antworten soll. Diese junge Frau lebte in Ul Qoma. Offiziell, wohlgemerkt, wir haben die Dokumente. Sie verschwindet. Wird in Besźel gefunden, ermordet.« Ich legte die Stirn in Falten. »Ich bin nicht ganz sicher. Welche Beweise fehlen Ihrer Meinung nach?«
    »Handfeste, für den Anfang. Will sagen, haben Sie eine Anfrage an das Außenministerium gerichtet? Haben Sie zum Beispiel recherchiert, ob Miss Geary vielleicht Ul Qoma verlassen hat, um, sagen wir, an einer Konferenz in Budapest teilzunehmen oder Ähnliches? Vielleicht war es so, und sie ist anschließend nach Besźel eingereist? Für eine Zeitspanne von zwei Wochen ist ihr Verbleib völlig ungeklärt, Inspektor Borlú.«
    Ich holte tief Atem. »Wie ich schon sagte, man hätte sie nicht nach Besźel hereingelassen nach ihrem kleinen Auftritt bei ...«
    Mit fast bedauernder Miene fiel er mir ins Wort. »Ahndung ist ... eine fremde und fremdartige Macht.« Etliche der Besź und einige Qomani am Tisch waren sichtlich schockiert. »Wir alle wissen das«, sagte Syedr, »auch wenn man politisch korrekt vermeidet, es auszusprechen.
    Ahndung ist, ich wiederhole, eine fremde Macht, und wenn wir ihr gegenüber unsere Souveränität aufgeben, dann tun wir das auf eigene Gefahr. Wir haben vor schwierigen Situationen kapituliert und sie an einen - man möge mir verzeihen, wenn ich Anstoß errege - Schatten weitergereicht, über den wir keinerlei Kontrolle besitzen. Nur, um uns das Leben leichter zu machen.«
    »Belieben Sie zu scherzen, Major?«, fragte jemand.
    »Ich habe genug davon ...«, begann Buric, Syedr schnitt ihm das Wort ab.
    »Nicht jeder von uns ist bestrebt, sich bei seinen Feinden einzuschmeicheln.«
    »Herr Vorsitzender«, fuhr Buric auf. »Dulden Sie, dass man mich hier ungestraft beleidigt? Das ist unerhört ...« Ich war Zeuge des neuen, überparteilichen Geists, von dem ich gelesen hatte.
    »Wo das Eingreifen von Ahndung geboten erscheint, befürworte ich die Ersuchen selbstredend«, fuhr Syedr fort. »Aber meine Partei vertritt bereits seit längerem die Linie, dass wir damit aufhören müssen, Ahndung leichtfertig eine derartige Machtbefugnis einzuräumen. Wie gründlich haben Sie tatsächlich ermittelt, Inspektor? Haben Sie mit den Eltern der Toten gesprochen? Mit ihren Freunden? Was wissen wir tatsächlich über diese arme junge Frau?«
    Ich hätte darauf vorbereitet sein sollen. Ich war es nicht.
    Einmal in meinem Leben hatte ich Ahndung in Aktion gesehen, ganz kurz. Wer nicht? Ich hatte gesehen, wie die mysteriöse Institution die Kontrolle übernahm. Die allermeisten Fälle von Grenzbruch sind plötzlich, unmittelbar. Ebenso plötzlich und unmittelbar erfolgt das Eingreifen von Ahndung. Ich war es nicht gewöhnt, Anträge einzureichen, um Genehmigungen zu ersuchen, zu obsekrieren, der ganze Hokuspokus. Vertrau auf Ahndung, hören wir von klein auf, immer brav nichtsehen und schweig über die Taschendiebe und Räuber in Ul Qoma, selbst wenn du sie bei ihrer Tat beobachtest, was du nicht darfst von Besźel aus, denn Grenzbruch ist ein schlimmeres Verbrechen als das, was sie tun.
    Ich war vierzehn, als ich Ahndung zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Die Ursache war die gewöhnlichste aller möglichen - ein Verkehrsunfall. Ein kleiner kastenförmiger Lieferwagen aus Ul Qoma war ins Schleudern geraten - das ist dreißig Jahre her, und über Ul Qomas Straßen rollten nicht die imposanten Limousinen von heute. Er fuhr auf einer deckungsgleichen Straße, und ein gutes Drittel der Autos in dem Gebiet waren Besź. Wäre der Fahrer imstande gewesen, den Wagen abzufangen und wieder auf seinen Fahrstreifen zurückzulenken, hätten die Automobilisten in Besźel auf die traditionelle Art und Weise auf so ein eingedrungenes ausländisches Hindernis reagiert: eine der unvermeidlichen Schwierigkeiten des Lebens in einer deckungsgleichen Stadt. Stolpert ein Qomani

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