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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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gegen einen Besź, jeder in seiner eigenen Stadt, kommt ein Hund aus Ul Qoma angelaufen und schnüffelt an einem Passanten in Besźel, oder es zerbricht in Ul Qoma ein Fenster und die Scherben fallen Spaziergängern in Besźel vor die Füße - in allen diesen und ähnlichen Situationen werden die Besź (oder im umgekehrten Fall die Qomani) dem externen Ärgernis so gut wie möglich ausweichen, ohne es zur Kenntnis zu nehmen. Anfassen zwecks Beseitigung, falls unumgänglich, aber lieber nicht.
    Dieses höfliche, stoische Nichtbeachten ist die Art, wie man mit Protubs verfährt. Protubs - das ist Besź für »Protuberanzen« aus der anderen Stadt. Es gibt auch in Illit ein Wort dafür, aber so weit reichen meine Fremdsprachenkenntnisse nicht. (Nur Abfall bildet eine Ausnahme, vorausgesetzt, er treibt sich schon lange genug auf der Straße herum. Auf deckungsgleichem Pflaster liegend oder von dort, wo er achtlos weggeworfen wurde, nach außerhalb geweht, beginnt er sein Dasein als Protub, doch endlich zerschunden und verwittert, die Schrift - Illit oder Besź - fleckig, dreckig und bis zur Unleserlichkeit verblichen, in kleinen und größeren Horden von seinesgleichen vagabundierend, ist er einfach nur Abfall und achtet der Grenzen so wenig wie Nebel und Regen und Rauch.)
    Der Lieferwagenfahrer, den ich sah, bekam sein Fahrzeug nicht wieder in die Gewalt. Er schlitterte quer über den Asphalt - ich weiß nicht, welche Straße es in Ul Qoma war, hüben war es die KünigStrász -, prallte gegen die Mauer einer Boutique in Besźel und einen Fußgänger, der dort die Schaufensterauslage betrachtete. Der Mann starb, der Fahrer aus Ul Qoma wurde schwer verletzt. In beiden Städten schrien Menschen. Ich sah den Aufprall nicht, aber meine Mutter sah ihn und drückte meine Hand so fest, dass auch ich aufschrie, noch bevor mir der Anlass ins Bewusstsein drang.
    Kind sein in Besźel (und nach aller Wahrscheinlichkeit auch in Ul Qoma) bedeutet lernen, lernen, lernen, die tausend Kleinigkeiten, die man wissen muss, um keinen Fehltritt zu tun. Sehr schnell prägten wir uns ein, wie man sich kleidet, welche Farben erlaubt waren, die richtige Körperhaltung und wie man geht. Im Alter von acht Jahren oder so konnte man den meisten von uns zutrauen, dass wir uns ohne peinliche Patzer draußen zu bewegen wussten, auch wenn man Kindern natürlich noch weitgehend Narrenfreiheit gewährt.
    Ich war fast doppelt so alt, als ich damals mit weit aufgerissenen Augen auf das blutige Resultat dieses grenzbrechenden Unfalls schaute, und ich erinnere mich, dass mir all diese erlernten Kleinigkeiten einfielen und dass sie eigentlich total bescheuert waren. In dem Moment, als meine Mutter und ich wie alle Zeugen des Unfalls nur Augen für das ausländische Autowrack hatten, war das ganze disziplinierte Nichtsehen, das ich gerade erst gelernt hatte, verpufft.
    Innerhalb von Sekunden war Ahndung da. Schemen, Gestalten, von denen einige vielleicht schon vor Ort gewesen waren, doch trotzdem den Eindruck erweckten, als materialisierten sie sich in den Räumen zwischen den Rauchschwaden. Sie bewegten sich so schnell, dass man sie nicht genau erkennen konnte, bewegten sich mit Autorität und einer Aura unangreifbarer Macht, sodass in einem Lidschlag das betroffene Areal unter Kontrolle und isoliert war. Die wirkenden Gewalten blieben schattenhaft. Am Rand der Zone drängte unsere Polizei und, unmöglich zu nichtsehen, die Ul Qomas die Schaulustigen in ihre jeweiligen Städte zurück, spannten Flatterband, schlossen Unbeteiligte aus, riegelten einen Bereich ab, in dem Ahndung organisierte, kauterisierte, reparierte.
    Seltene Vorfälle wie dieser boten Gelegenheit, einen Blick auf Ahndung zu erhaschen und auf sein Tun. Unfälle und grenzdurchbrechende Katastrophen. Das Erdbeben von 1926, eine große Feuersbrunst. (Einmal hatte es reinräumlich dicht bei meiner Wohnung gebrannt. Das Feuer war auf ein Haus beschränkt gewesen, aber ein nicht in Besźel gelegenes Haus, von mir also nicht gesehen. Ich verfolgte in meinem Fernseher den von Ul Qoma ausgestrahlten Bericht über den Brand, während sich in meinem Wohnzimmerfenster der flackernde rote Feuerschein von gegenüber spiegelte.) Der Tod eines unbeteiligten Qomani durch einen Querschläger bei einem bewaffneten Überfall. Es war schwierig, solche Krisen mit der zähen Bürokratie in Zusammenhang zu bringen, die mir jetzt das Leben schwer machte.
    Ich trat verstohlen von einem Fuß auf den anderen und fixierte

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