Die Stadt und die Stadt
freundlichen Kopfnicken zu uns hinüber. Sie sahen aus wie auf den von unseren amerikanischen Kollegen geschickten Fotos, aber ich hätte sie auch so erkannt. Sie trugen den Ausdruck, wie ich ihn nur bei Eltern gesehen hatte, die um ein Kind trauerten: Ihre Gesichter waren grau, vor Erschöpfung und Kummer verquollen. Sie bewegten sich so schwerfällig, als wären sie seit dem schicksalhaften Telefonanruf um fünfzehn oder zwanzig Jahre gealtert.
»Mr. und Mrs. Geary?« Ich hatte mein Englisch aufpoliert.
»Oh«, sagte sie, die Frau. Sie streckte die Hand aus. »O ja, Sie sind ... Sie sind Mr. Corwi, nicht wahr ...?«
»Nein, Mrs. Geary. Ich bin Inspektor Tyador Borlú von der Abteilung für Kapitalverbrechen in Besźel.« Ich schüttelte ihre Hand, die ihres Mannes. »Das ist Constable Lizbyet Corwi. Mr. und Mrs. Geary, ich -wir möchten Ihnen unser tief empfundenes Beileid aussprechen.«
Die beiden klappten mit den Augendeckeln, nickten und machten den Mund auf und zu, blieben aber stumm. Ihre Trauer ließ sie dumm aussehen. Es war grausam.
»Darf ich Sie in Ihr Hotel begleiten?«
»Nein, vielen Dank, Inspektor«, sagte Mr. Geary. Ich schaute zu Corwi, aber sie folgte konzentriert dem, was gesprochen wurde, anscheinend verstand sie uns gut. »Wir möchten ... wir möchten gleich das tun, weswegen wir hergekommen sind.« Mrs. Geary knetete ihre Tasche. »Wir möchten unsere Tochter sehen.«
»Selbstverständlich. Bitte.« Ich führte sie zum Auto. Corwi setzte sich ans Steuer.
»Werden wir Professor Nancy treffen?«, fragte Mr. Geary, als wir losfuhren. »Und Mays Freunde?«
»Leider, Mr. Geary«, antwortete ich, »wird das nicht möglich sein, fürchte ich. Sie sind nicht in Besźel. Sie sind in Ul Qoma.«
»Du weißt doch, Michael, du weißt, wie das hier ist«, sagte seine Frau.
»Ja, ja«, sagte er zu mir, als wären es meine Worte gewesen. »Ja, tut mir leid, lass mich ... Ich möchte eben gern mit ihren Freunden reden.«
»Es lässt sich einrichten, Mr. Geary, Mrs. Geary. Wir werden eine Telefonverbindung arrangieren. Und ...« Ich dachte an die Kopula. »Wir werden Sie nach Ul Qoma eskortieren lassen. Nachdem hier die Formalitäten erledigt sind.«
Mrs. Geary heftete den Blick auf ihren Mann. Er starrte aus dem Fenster auf die Straßen und Fahrzeuge. Einige der Überführungen, denen wir uns näherten, gehörten zu Ul Qoma, aber ich war überzeugt, dass er nicht wegschauen würde. Dass es ihn nicht kümmerte, auch wenn er wusste, dass es verboten war, sie zu sehen. Unterwegs drohte noch der illegale Ausblick auf einen glamourösen und rasant gewachsenen Finanzdistrikt Ul Qomas, der mit grässlicher, aber großformatiger Volkskunst prunkte.
Beide Gearys trugen die ABID, den Nachweis der Aufenthaltsberechtigung, in den Farben Besźels, doch als Empfänger des seltenen Trauerfall-Visums hatten sie keine Touristenschulung erhalten, hatten keine Ahnung von dem hiesigen Grenzverständnis. Ihr Kummer stumpfte sie ab gegen alles andere. Die Gefahr eines Grenzbruchs war groß. Wir mussten sie davor schützen, dass sie, ohne es zu wollen, Dinge taten, für die sie deportiert werden konnten, wenn nicht Schlimmeres. Bis Ahndung den Fall offiziell übernommen hatte, mussten wir Babysitter spielen: Wir würden den Gearys nicht von der Seite weichen, bis sie in ihrem Hotel waren, in ihrem Zimmer und vorzugsweise im Bett.
Corwi schaute auffallend stur auf die Straße. Wir mussten aufpassen wie die Schießhunde. Wären die Gearys reguläre Touristen gewesen, hätten sie eine vorbereitende Schulung durchlaufen und das anspruchsvolle Einreiseexamen abgelegt, sowohl den theoretischen als auch den praktischen Teil mit Rollenspielen, um sich für ihr Visum zu qualifizieren. Dann kannte man, wenigstens rudimentär, die Schlüsselmerkmale von Architektur, Kleidung, Alphabet und Verhalten, die verbotenen Farben und Gebärden und obligatorischen Einzelheiten - dazu, abhängig von ihrem Unterweiser, die angeblichen Unterschiede in der jeweiligen nationalen Physiognomie -, die Besźel, Ul Qoma und ihre Einwohner charakterisierten. Man wusste ein klein wenig (wir Einheimischen wussten auch nicht viel mehr) über Ahndung. Entscheidend war, nach der Schulung wusste man gut genug Bescheid, um offensichtliche Grenzbrüche zu vermeiden.
Nach einem zweiwöchigen oder was-weiß-ich-wie-langem Kurs glaubte niemand, dass Touristen dasselbe tiefverwurzelte, intuitive Verständnis für unsere Grenzen zeigten wie die Einheimischen.
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