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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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seriöse Archäologie?«
    »Ich meine damit, wenn sie Orciny zum Gegenstand ihrer Studien gemacht hätte, und dafür könnte es ausgezeichnete Gründe geben, hätte sie ihre Doktorarbeit in Volkskunde oder Anthropologie oder meinetwegen Komparatistik geschrieben. Zugegeben, die Grenzen zwischen den Fachbereichen sind fließend, auch zugegeben, dass Mahalia zu der ganzen Reihe junger Archäologen gehörte, die mehr an Foucault und Baudrillard interessiert sind als an Gordon Childe und Schaufeln.« Ihre Stimme klang nicht zornig, sondern resigniert und gleichzeitig belustigt. »Aber wir hätten sie nicht angenommen, wenn ihr Gebiet nicht wirklich Archäologie gewesen wäre.«
    »Und was genau war das Thema ihrer Dissertation?«
    »Bol Ye'an ist eine alte Ausgrabung, Inspektor.«
    »Genauer, bitte.«
    »Ich bin überzeugt, Sie wissen von den Kontroversen die frühzeitlichen Funde in dieser Region betreffend, Inspektor. In Bol Ye'an graben wir Stücke aus, die ein paar tausend Jahre alt sind. Ganz gleich, welches Ihre Lieblingstheorie ist, ob Spaltung, Teilung oder Konvergenz, was wir zu Tage fördern, stammt aus der Zeit vor Ul Qoma und Besźel. Es sind Artefakte des Ursprungs.«
    »Faszinierend.«
    »Allerdings. Und ziemlich rätselhaft. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass wir so gut wie nichts über die Kultur wissen, die dem derzeitigen Zustand vorausgegangen ist?«
    »Aha. Deshalb das weltumspannende Interesse?«
    »Deshalb. Und wegen der Art der Fundstücke. Mahalia versuchte sich an etwas, was der Titel ihrer Dissertation als ›Eine Hermeneutik der Identität‹ bezeichnete, auf der Grundlage der Beschaffenheit von mechanischen Komponenten und so weiter.«
    »Ich fürchte, das verstehe ich nicht.«
    »Dann war sie erfolgreich. Eine Dissertation hat zum Ziel, dass nach ein paar Jahren kein Mensch mehr versteht, was man eigentlich tut, auch der Doktorvater oder die Doktormutter nicht. Natürlich meine ich das nicht ernst. Ihre Arbeit hätte entscheidende Auswirkungen auf die Entstehungsgeschichte der beiden Städte haben können. Über ihre Anfänge. Sie hat mit ihren Ergebnissen ziemlich hinter dem Berg gehalten, deshalb war ich nie ganz sicher, in welche Richtung ihre Thesen sich von Monat zu Monat entwickeln würden, aber sie hatte ja noch ein paar Jahre, um sich zu entscheiden.«
    »Sie hat also bei den Grabungen geholfen?«
    »Aber ja. Das tun die meisten unserer Forschungsstudenten. Einige als Grundlagenforschung, bei anderen ist das Stipendium an diese Bedingung geknüpft, bei noch anderen ist es von beidem ein bisschen und manche wollen sich bei uns einschleimen. Mahalia erhielt eine Vergütung nach den Regelungen für studentische Hilfskräfte, aber hauptsächlich kam es ihr darauf an, die Fundstücke in die Hand nehmen zu können.«
    »Verstehe. Es tut mir leid, Professor Nancy, ich dachte, Mahalias Forschungsgebiet wäre Orciny ...«
    »Sie hat sich durchaus dafür interessiert. Vor einigen Jahren ist sie zu einer Konferenz, bei der über Orciny referiert werden sollte, nach Besźel gereist.«
    »Davon habe ich gehört.«
    »Schön. Bedauerlicherweise gab es einen kleinen Eklat, weil sie sich zu der Zeit als großer Verfechter Orcinys gefiel. Sie war ein kleiner Bowdenit, und das Papier, das sie einreichte, wurde alles andere als positiv aufgenommen. Führte zu einigen Protesten. Ich bewunderte ihren Mumm, aber sie war auf dem Weg ins Abseits mit diesem Steckenpferd. Als sie sich für ihre Doktorarbeit anmeldete - um ehrlich zu sein, war ich ziemlich überrascht, dass sie zu mir kam -, überzeugte ich mich, dass sie wusste, was sie tun konnte und was nicht. Aber, hm, ich weiß nicht, was sie in ihrer Freizeit gelesen hat, aber was sie schrieb ... wenn ich die überarbeiteten Kapitel ihrer Dissertation bekam, waren sie - gut.«
    »Gut?«, fragte ich. »Das klingt nicht ...«
    Sie zögerte.
    »Nun ... Ehrlich gesagt war ich ein ganz klein wenig enttäuscht. Sie war intelligent. Ich wusste, dass sie intelligent war, denn wissen Sie, in Seminaren und so weiter war sie brillant. Und sie arbeitete hart. Sie war eine ›Malocherin‹, wie man bei uns sagt« - das Wort sagte sie auf Englisch - »ständig in der Bibliothek. Aber ihre Kapitel ...«
    »Nicht gut?«
    »Doch. Wirklich, es gab nichts auszusetzen. Ihre Promotion hatte sie so gut wie in der Tasche, aber ihre Dissertation würde keine hohen Wellen schlagen. Ihr fehlte der Glanz, wenn Sie verstehen, was ich sagen will. Und in Anbetracht der Tatsache,

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