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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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ihre.«
    »Die Foucaults und die Žižeks sind nicht Ihr Ding?«
    »Selbstverständlich respektiere ich sie, aber ...«
    »Hat sie sich keinen von diesen, wie soll ich sagen, Theoretikern als Leitstern erwählt?«
    »Doch, aber sie sagte mir, ihr käme es darauf an, die realen Objekte in den Händen zu halten. Ich bin eine praxisorientierte Wissenschaftlerin. Meine eher der Philosophie zugeneigten Kollegen würden ... nun, ich würde den meisten nicht zutrauen, dass sie imstande sind, den Staub der Jahrhunderte von einer Amphore zu wedeln.« Ich lachte. »Deshalb glaube ich, dass sie den Nutzen praktischer Grabungsarbeit eingesehen hatte; jedenfalls hatte sie den Willen, auch diese Seite der Dinge kennenzulernen. Ich war überrascht, aber ich habe mich auch gefreut. Ihnen ist klar, dass die Fundstücke einzigartig sind, Inspektor?«
    »Ich denke schon. Natürlich kenne ich auch die Gerüchte, die sich darum ranken.«
    »Sie sprechen von den angeblichen Zauberkräften? Schön wär's, schön wär's. Doch auch ohne Hokuspokus sind diese Ausgrabungen unvergleichlich. Diese materielle Kultur stellt uns vor Rätsel. Nirgendwo sonst holt man Dinge aus der Erde, die aussehen wie Vorreiter des späten Altertums, wirklich wunderschöne Bronzen, und daneben liegen Gegenstände, deren Machart eindeutig ins Neolithikum verweist. Stratigrafie ad absurdum geführt. Bol Ye'an wurde als Beweis gegen die Harris Matrix ins Feld geführt - irrtümlich, aber Sie verstehen, warum. Deshalb sind die hiesigen Grabungsstätten bei jungen Archäologen beliebt. Sogar ohne das Augenmerk auf die Geschichten zu richten, die nur Geschichten sind, nichts weiter, aber das hat auch fachfremde Forscher nicht davon abgehalten, sich um einen Blick auf die Wunderdinge zu reißen. Trotzdem wäre in meinen Augen Dave die erste Wahl für Mahalia gewesen, nicht dass sie viel Glück bei ihm gehabt hätte.«
    »Dave? Bowden? Er lebt? Er unterrichtet?«
    »Natürlich lebt er. Doch auch damals, als Mahalia noch auf der Orciny-Schiene fuhr, hätte sie ihn nicht als Betreuer bekommen. Ich könnte wetten, dass sie sich zuerst an ihn gewandt hat. Und ich könnte wetten, dass sie kurz und bündig abgefertigt wurde. Er hat Orciny seit langem abgeschworen. Es ist der Fluch seines Lebens. Fragen Sie ihn. Eine Jugendsünde, deren Folgen er nicht abschütteln kann. Er hat seither nichts Brauchbares mehr veröffentlicht. Er ist für den Rest seines Lebens als der Orciny-Mann abgestempelt. Er wird Ihnen das selbst erzählen, wenn Sie mit ihm sprechen.«
    »Vielleicht tue ich das. Sie kennen ihn?«
    »Er ist ein Kollege. Prä-Szissions-Archäologie ist kein großes Feld. Er lehrt wie ich an der Prince of Wales. Seinen Wohnsitz hat er hier in Ul Qoma.«
    Auch sie lebte mehrere Monate im Jahr in Ul Qoma, im Universitätsviertel, wo die Prince of Wales und andere kanadische Institutionen mit diebischem Vergnügen die Tatsache nutzten, dass die USA Ul Qoma boykottierten (aus Gründen, die dort heutzutage selbst den meisten Ultra-Rechten peinlich sind). Statt ihrer knüpfte Kanada enthusiastisch Bande wirtschaftlicher und akademischer Natur mit Ul Qoma.
    Besźel war selbstverständlich gut Freund mit sowohl Kanada als auch den Vereinigten Staaten, aber der Elan, mit dem die beiden Länder gemeinsam sich bemühten, unseren schwächelnden Märkten auf die Beine zu helfen, verblasste gegenüber der Hingabe, mit der Kanada die - wie sie es nannten - New-Wolf-Economy umschmeichelte. Wir waren ein Straßenköter oder vielleicht eine magere Kanalratte.
    Das meiste Ungeziefer kümmert sich nicht um Grenzen. Man kann sehr schwer beweisen, dass die scheuen einheimischen Eidechsen in den Mauerritzen Besźels nur in Besźel leben können, wie gern behauptet wird. Sie sterben zwar, wenn sie nach Ul Qoma exportiert werden (selbst wenn es sanfter geschieht als von Kinderhand), doch auch in Besźel sterben sie in Gefangenschaft. Tauben, Mäuse, Wölfe, Fledermäuse leben in beiden Städten, sind Geschöpfe der Deckungsgleiche. Doch in stillschweigender Übereinstimmung wird von jeher die Majorität der hiesigen Wölfe - verschlagene, hagere Kreaturen, seit langem verstädtert und an das Überleben aus der Mülltonne gewöhnt - aus unerfindlichen Gründen Besźel zugeordnet. Nur die wenigen großen und etwas ansehnlicheren Exemplare gehören der gleichen stillschweigenden Übereinstimmung zufolge nach Ul Qoma. Viele Bürger Besźels vermeiden eine Verletzung dieser absolut unnötigen, künstlich

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