Die Stadt und die Sterne - Mit einem Vorwort von Gary Gibson
Meister war also ein Betrüger?«
»Nein, so einfach ist es nicht. Wenn er nur ein Scharlatan gewesen wäre, hätte er nie diesen Erfolg gehabt, und seine Bewegung hätte sich niemals so lange gehalten. Er war ein guter Mensch, und vieles an seiner Lehre war richtig und weise. Am Schluss glaubte er an seine eigenen Wunder, aber er wusste, dass es einen Zeugen gab, der sie widerlegen konnte. Der Roboter kannte seine sämtlichen Geheimnisse; er war sein Sprecher und sein Mitstreiter; wenn man ihn aber ausführlich befragte, würde er die Grundlage seiner Macht zerstören können. Deswegen befahl er ihm, seine Erinnerungen bis zum letzten Tag des Universums, wenn die Großen kämen, nicht preiszu geben. Es scheint kaum glaublich, dass in einem Menschen eine derartige Mischung aus Aufrichtigkeit und Täuschung bestehen kann, aber so ist es eben.«
Alvin fragte sich, was der Roboter über seine Befreiung von der uralten Fessel dachte. Er war genügend kompliziert, um Gefühle wie Groll und Zorn empfinden zu kön nen. Vielleicht hasste er den Meister , weil er ihn versklavt hatte – vielleicht hasste er Alvin und das Zentralgehirn, weil sie ihn überlistet und ihm seinen Verstand wieder aufgezwungen hatten.
Die Zone des Schweigens war aufgehoben; sie brauchten nichts mehr geheim zu halten. Der Augenblick, auf den Alvin gewartet hatte, war gekommen. Er wandte sich an den Roboter und stellte ihm die Frage, die ihn verfolgte, seit er die Geschichte des Meisters gehört hatte.
Und der Roboter antwortete.
Jeserac und die Wachen warteten immer noch geduldig auf ihn. Oben auf der Rampe, bevor sie sich wieder auf den Rückweg machten, blickte Alvin noch einmal auf den Saal zurück. Die Illusion hatte sich noch verstärkt: Unter ihm lag eine tote Stadt aus seltsamen weißen Gebäuden, eine vom grellen Licht gebleichte Stadt, nicht für menschliche Augen gedacht. Ja, sie war tot, sie hatte nie gelebt, aber ihre pulsierende Energie war stärker als alles, was jemals organische Wesen befeuert hatte. Solange die Welt bestand, würden diese stummen Maschinen hier sein und über die Ideen nachdenken, die ihnen vor Urzeiten von einigen genialen Menschen eingespeist worden waren.
Obwohl Jeserac auf dem Weg zum Ratssaal Alvin befragte, erfuhr er nichts von dem Gespräch mit dem Zentralgehirn. Nicht dass Alvin besonders diskret gewesen wäre – er konnte schlicht noch nicht fassen, was er eben erlebt hatte, er war noch so berauscht von seinem Erfolg, dass er zu keinem vernünftigen Gespräch fähig war. Jeserac musste sich in Geduld fassen und darauf vertrauen, dass Alvin bald aus seinem Trancezustand aufwachen würde.
Im Vergleich mit der grellen Maschinenstadt schienen die Straßen von Diaspar in blasses, mattes Licht getaucht zu sein. Aber Alvin hatte sowieso keine Augen für seine Umgebung. Er achtete nicht auf die vertraute Schönheit der großen Türme, die an ihm vorbeizogen, auch die neugierigen Blicke der Mitbürger bemerkte er nicht. Vielmehr stellte er voller Erstaunen fest, dass all seine Erlebnisse auf diesen Moment hingezielt hatten; seit seiner Begegnung mit Khedron strebten die Ereignisse scheinbar automatisch auf ein vorbestimmtes Ziel zu. Die Monitore, Lys, Shalmirane – jedes Mal hätte er die Augen verschließen und sich abwenden können, aber er hatte weitergemacht, als würde ihn irgendetwas antreiben. Hatte er sein Leben selbst in der Hand? Oder begünstigte ihn das Schicksal in besonderer Weise? Vielleicht gründete das alles nur auf den Auswirkungen der Wahrscheinlichkeiten, auf den Gesetzen des Zufalls … Der Weg, den er beschritten hatte, konnte genauso gut von jedem anderen beschritten werden, und in früheren Zeitaltern hatten ihn sicher auch unzählige andere beschritten, wenn auch nicht ganz so weit wie er. Zum Beispiel die früheren Einzigartigen – was war mit ihnen passiert? Oder war er doch der Erste, der so viel Glück hatte?
Während des ganzen Rückwegs trat Alvin immer mehr in Verbindung mit dem Roboter, den er aus seiner langen Gefangenschaft befreit hatte. Der Roboter war immer in der Lage gewesen, seine Gedanken zu empfangen, aber vorher hatte er nie gewusst, ob er seinen Befehlen gehorchen würde. Jetzt gab es diese Unsicherheit nicht mehr; er konnte mit ihm wie mit einem anderen Menschen sprechen, aber er wies ihn an, einfache Gedankenbilder zu verwenden, solange sie nicht allein waren. Manchmal ärgerte er sich über die Tatsache, dass Roboter miteinander telepathisch verkehren
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