Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
hat.
Joffe (Direktor, Medizinisches Institut. Das Interview wurde am 1. Februar 1944 durchgeführt): Unser größtes Problem ist der Wohnraum. Die Studenten schlafen nach wie vor zu zweit in einem Bett. Wir haben zwar viel Bettzeug, viele Betten und Matratzen, aber keinen Platz, um die Betten aufzustellen. […]
In Stalingrad ist ein großer Zustrom von Menschen zu verzeichnen. Schon jetzt haben wir 250000 Einwohner, und jeden Monat treffen bis zu 10000 Personen ein, worüber die »Stalingrader Prawda« in der Rubrik »Die Wiedererrichtung Stalingrads« schreibt. Dieser Zustrom von Einwohnern schafft große Probleme bezüglich ihrer Unterbringung, Ernährung, der Beschulung der Kinder und der Behandlung von Kranken, denn der Wiederaufbau der Stadt hält im Hinblick auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt. In den Schulen wird von acht Uhr bis nachts um zwölf in Schichten unterrichtet, wobei die unteren Klassen nur jeden zweiten Tag Unterricht haben.
Doch man muss auch sagen, dass der Zustrom der Menschen ein Symbol für die Wiedererrichtung der Stadt ist. Viele leben noch unter den unterschiedlichsten Bedingungen: In Kellern, Schützengräben, Unterständen, in einem Raum leben Dutzende von Menschen. Und dennoch kommen die Menschen hierher, allen Hindernissen zum Trotz. Der Wegzug aus der Stadt ist sehr geringfügig, vorwiegend sind es Nichtstalingrader. Die Menschen kommen her, um für den Wiederaufbau Stalingrads zu kämpfen. […] Die Stimmung unter den Stalingradern ist lebhaft – wir wollen ganz normal leben und arbeiten. Die Siege der Roten Armee flößen uns Kraft ein wie ein Elixier.
Zurückgekehrte Stadtbewohner wohnen in den verlassenen Unterständen der 62. Armee, Stalingrad 1943. Fotograf: Georgi Selma
Telefonistinnen der Roten Armee bei der Arbeit. Stalingrad, Dezember 1942. Fotograf: Georgi Selma
Pigaljow (Vorsitzender des Sowjetkomitees, Stadt Stalingrad): Die Telefonistin saß bei den Feuerwehrleuten. Das Vermittlungspult dort war nicht geschützt. Es stand im ersten Stock. Wenn eine Bombe fiel, gab es keine Rettung. Der GS war aus Beton. Manchmal wurde man wie in einem Boot geschaukelt, wenn man da saß. Die armen Telefonistinnen hockten am Pult. Sie konnten nicht weg, sie mussten verbinden. Man rief an und hörte, wie ihre Stimme zitterte.
»Verbinden Sie mich mit Soundso!«
»Jawohl.«
Die Stimme zittert, aber die Verbindung wird hergestellt. Dann hört man durch den Hörer, dass sie weint, doch sie verlässt ihren Posten nicht, der Befehl lautet anders, sie bleibt sitzen. Das schien damals ganz normal. Wenn man jetzt, in ruhiger Situation, an diese Umstände zurückdenkt, stellen sie sich anders dar, aber damals sagte man sogar: »Was hast du uns für einen Sauertopf dahin gesetzt, die sitzt da und heult!« Wenn man sich jetzt die Situation vorstellt, wird einem richtig unheimlich. Es donnert überall, du sitzt im Beton, und sogar hier ist dir mulmig. Was muss sich erst bei ihr da oben tun, wenn sie im ersten Stock am Fenster sitzt! Sie ist immerhin eine Frau, kein Soldat mit starken Nerven. Eine normale Frau, eine normale Telefonistin, was kann man schon von der verlangen!
Aus dem Russischen von Christiane Körner
Der Kriegszug von Gurtjews Schützendivision
Die 308. Schützendivision war in der Schlacht um Stalingrad in den Monaten September und Oktober 1942 fast ununterbrochen im Einsatz. Sie kämpfte in zwei Schlüsselbereichen: zunächst auf den Kotluban-Höhen [364] vierzig Kilometer nordwestlich von Stalingrad und anschließend in der Fabrik »Barrikaden« im städtischen Industriebezirk. Die Kämpfe brachten der Division, die mit 10000 Soldaten aus Sibirien nach Stalingrad gebracht worden war, riesige Verluste bei. Als sie Anfang November 1942 zur Auffrischung in die Reserve abgezogen wurde, zählte sie nach offiziellen Angaben noch 1727 Mann. Von ihnen waren nach Schätzung Tschuikows höchstens ein paar hundert noch kampffähig. [365] Die intensiven acht Wochen unaufhörlicher Kämpfe schildern die folgenden zu einem Gruppengespräch geschnürten Interviews mit Kommandeuren, Politoffizieren, einfachen Soldaten und Krankenschwestern der 308. Schützendivision.
Der Vorstoß der deutschen Panzertruppen am 23. August zur Wolga nördlich von Stalingrad kam für die sowjetische Seite völlig unerwartet. Er trieb einen Keil in die Verteidigungslinie der Südostfront und der Stalingrader Front. Die über den Don
Weitere Kostenlose Bücher