Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
[…]
Als ich im Rajon Perelas war, fuhr ich zum Weiler Lipowski und unterhielt mich mit den Kolchose-Arbeitern, die dort geblieben waren. Sie erzählten mir von allen Gräueltaten der Deutschen und Rumänen, die dort gewesen waren. Im Weiler waren nur ein paar Kühe geblieben, die übrigen hatten die Deutschen weggeholt, und in der Kolchose gab es etwa 179, 180 Höfe – ein großes Dorf ist das. Besonders empört war die Siedlung über die Kriegsgefangenenlager. Im Weiler Lipowski ist ein kleiner Fluss, am Flussufer gab es eine Schweinezucht. Alle Höfe der Kolchose wurden niedergebrannt – die Rinderzucht, die Schafzucht, bloß die Schweinezucht blieb übrig, ihr Hof wurde mit Stacheldraht umgeben, und dort befanden sich Kriegsgefangene. Sie bekamen Roggenspreu zu essen. Am Tag vor meiner Ankunft hatte man schon viele von ihnen beerdigt. Dort waren 23 Kommandeure mit erfrorenen Füßen gewesen, die Deutschen hatten sie nicht mitgenommen, sondern im Schweinestall mit Stroh umwickelt und angezündet. Wir trafen sechs Rotarmisten an, die in einer kleinen Hütte saßen, fünf Mann waren in einer Erdhütte im Hof. Die Bevölkerung half ihnen, und als der Sekretär des Rajonkomitees kam, wurden sie ins Lazarett gebracht, die meisten mit Erfrierungen, ausgezehrt, sie hatten nichts zu essen bekommen.
Romanenko (1. Sekretär des Bezirks »Barrikaden«): Von den vielen tausend, die vor dem 23. August im Bezirk gelebt hatten, trafen wir nur 130 Personen an – ausgemergelt, aufgebläht vor Hunger, mit Erfrierungen. Viele dieser Menschen erklärten, wenn die Unseren in den nächsten zwei, drei Wochen nicht gekommen wären, wären sie verhungert oder erfroren oder an den Misshandlungen der Deutschen gestorben.
Burin (Aufklärer der 38. Schützenbrigade, ehem. Schlosser in der Fabrik »Barrikaden«): Meine Familie war in Stalingrad geblieben. Einen Vater habe ich nicht mehr, meine Mutter ist umgekommen. Als wir hier ankamen, ging ich zu mir nach Hause und erhielt die Nachricht, dass meine Mutter am 8. September umgekommen war. Sie war in der Küche und kochte, es war vier Uhr morgens, eine Bombe fiel. Das Haus brannte nieder, meine Mutter wurde getötet.
Denissowa (Parteisekretärin des Jerman-Bezirks): Im Bezirk leben jetzt 62 Personen. Ein Teil der Bevölkerung wurde von den Deutschen deportiert, ein Teil blieb hier. Geblieben ist die Bevölkerung, die sich den Deutschen angenähert hat, die für sie gearbeitet hat. Diesen Leuten wurde erlaubt, hier zu leben. Es war eine verbotene Zone. Zur Zeit gehen wir die Häuserblocks ab. Dreimal haben wir eine Zählung der Bevölkerung durchgeführt, wir versuchen festzustellen, was mit wem ist. Wenn nötig, machen wir über den Betreffenden Meldung an die zuständigen Organe. [346]
Joffe (Direktor, Medizinisches Institut): Die Bevölkerung, die es nicht geschafft hatte, sich zu verstecken, wurde von den Deutschen nach Westen getrieben. Es blieben nur die zurück, die rechtzeitig in ihre Löcher gekrochen waren. Die Bevölkerung, die für die Deutschen gearbeitet hatte, war sofort zu erkennen – das sind Menschen, die das Gefühl für die eigene Würde verloren haben. Ich begegne in meiner Sprechstunde stets einer großen Anzahl Menschen und erkenne diese unsowjetischen Leute sofort, am Blick, daran, dass sie nicht mutig, nachdrücklich, geradeheraus reden können, vielleicht weil sie solche Angst hatten oder weil sie so zermürbt sind. Das wird sich nicht schnell geben, und in der ersten Zeit werden sich diese Leute psychologisch von anderen unterscheiden.
Volksküche in Stalingrad, März 1943. Fotograf: Georgi Selma
Subanow (Chefingenieur im Energiekombinat Stalgres): Nachdem ich ans linke Ufer evakuiert worden war, rief man mich nach Moskau, und dort sollte ich bleiben. Scheinbar war das ein Vorschlag, dem man nur zustimmen konnte – eine Arbeit in Moskau, eine Wohnung gaben sie mir. Einem gewissen Typ Mensch hätte das gefallen, aber ich zog es vor abzulehnen, indem ich mich davon leiten ließ, dass man mich hier mehr braucht als in Moskau. Ich kann das Kraftwerk in dieser schweren Zeit nicht im Stich lassen. Wenn es mich in guten Zeiten durch seine Arbeit großgezogen hat, muss ich ihm helfen, ihm alles geben, wenn es eine schwere Zeit erlebt. Ich bin hier vom einfachen Ingenieur zum Chefingenieur geworden. Und mein Gewissen diktiert mir jetzt die Aufgabe, das Werk wiederaufzubauen, damit es von neuem die Leistung erbringt, die es vor dem Krieg erbracht
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