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Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)

Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)

Titel: Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Hellbeck
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Teilen der Stadt. Ihre gesamte Feuerkraft von zahllosen Granatwerferbatterien, Tausenden von Geschützen und Fliegercorps richteten sie nun auf den nördlichen Teil der Stadt, auf die Fabrik im Zentrum des Industriegebiets. Die Deutschen nahmen an, dass die menschliche Rasse nicht imstande sei, diese Spannung auszuhalten, dass es auf Erden keine Herzen und keine Nerven gebe, die in der mörderischen Hölle des Feuers, des kreischenden Metalls, der bebenden Erde und der tollwütigen Luft nicht zerreißen würden. Hier war das gesamte teuflische Arsenal des deutschen Militarismus konzentriert – schwere Panzer und Flammenwerferpanzer, sechsrohrige Granatwerfer, Armadas von Sturzkampfbombern mit heulenden Sirenen, Splitter- und Sprengbomben. Hier wurden die MPi-Schützen mit Sprenggeschossen, die Artilleristen und Granatwerferschützen mit Thermitgeschossen ausgerüstet. Hier war die ganze deutsche Artillerie versammelt, von kleinkalibrigen Panzerbüchsen bis zu schweren weittragenden Kanonen. Hier war die Nacht hell von Bränden und Leuchtkugeln, hier war der Tag dunkel vom Qualm brennender Gebäude und von künstlichen Nebelwänden, die deutsche Tarnspezialisten erzeugt hatten. Hier war das Krachen so kompakt wie Erde, die kurzen Minuten der Stille aber erschienen schrecklicher und unheilvoller als das Getöse der Schlacht. Und wenn die Welt den Kopf neigt vor dem Heldenmut der russischen Armeen, wenn die russischen Armeen begeistert von den Verteidigern Stalingrads sprechen, dann sagen hier in Stalingrad Schumilows Kämpfer voller Hochachtung:
    »Na, was sind wir schon? Das sind Männer: Die halten die Fabriken.«
    Es ist ein schreckliches Wort für den Menschen im Krieg: Hauptstoßrichtung. Es gibt kein schlimmeres im Krieg, und es ist natürlich kein Zufall, dass an einem trüben Herbstmorgen gerade die sibirische Division von Oberst Gurtjew die Verteidigungsstellung bei der Fabrik bezog. Die Sibirjaken sind ein stämmiger, ernster Volksschlag, an Kälte und Entbehrungen gewöhnt, schweigsam, mit Sinn für Ordnung und Disziplin, scharfzüngig. Die Sibirjaken sind ein zuverlässiger, bodenständiger Volksschlag. Sie hackten finster schweigend die steinige Erde mit Pickeln auf, schlugen Schießscharten in die Mauern der Werksgebäude und bauten Unterstände, Schützengräben und Gänge.
    Oberst Gurtjew, ein hagerer fünfzigjähriger Mann, hatte 1914 nach dem zweiten Studienjahr das Petersburger Polytechnikum verlassen und war als Freiwilliger in den russisch-deutschen Krieg gezogen. Er kämpfte damals als Artillerist bei Warschau, Baranowitschi und Tschartorisk gegen die Deutschen.
    Achtundzwanzig Jahre seines Lebens hatte der Oberst dem Militärwesen gewidmet, gekämpft und Kommandeure ausgebildet. Seine beiden Söhne zogen als Leutnants in den Krieg. Im fernen Omsk blieben seine Frau und seine studierende Tochter zurück. An diesem feierlichen und schrecklichen Tag dachte der Oberst an seine Leutnantssöhne, seine Frau, seine Tochter und an die zig jungen Kommandeure, die er ausgebildet hatte, er dachte an sein langes, arbeitsreiches, spartanisch bescheidenes Leben. Ja, es war die Stunde gekommen, da alle Prinzipien der militärischen Wissenschaft, Moral und Pflicht, die er seine Söhne, Studenten und Kollegen streng und stetig gelehrt hatte, auf den Prüfstand kamen. Beunruhigt musterte der Oberst die Gesichter der sibirischen Soldaten aus Omsk, Nowosibirsk, Krasnojarsk, Barnaul – all der Männer, mit denen er auf Geheiß des Schicksals die Schläge des Feindes abwehren sollte. Die Sibirjaken waren gut ausgebildet an die große Frontlinie gekommen. Die Division hatte eine umfangreiche Schulung durchlaufen, bevor sie an die Front marschierte. Oberst Gurtjew hatte die Kämpfer sorgfältig, klug und mit schonungsloser Kritik ausgebildet. Er wusste, dass die militärische Ausbildung, wie schwer sie auch war – die nächtlichen Sturmübungen, das Überrollen der in Splittergräben sitzenden Soldaten mit Panzern, die langen Märsche –, um ein Vielfaches leichter war als der Krieg. Er glaubte an die Standhaftigkeit und Kraft der sibirischen Regimenter. Er erprobte sie auf der langen Fahrt an die Front, auf der es nur ein außerordentliches Vorkommnis gab: Ein Soldat hatte sein Gewehr aus dem fahrenden Zug fallen lassen, war abgesprungen und drei Kilometer zur nächsten Station gerannt, um den an die Front fahrenden Truppentransport einzuholen. Er erprobte die Regimenter in der Stalingrader Steppe auf ihre

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