Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
Standhaftigkeit, wo die im Kampf unerfahrenen Männer ruhig einen Überraschungsangriff von dreißig deutschen Panzern abwehrten. Er erprobte die Sibirjaken während des letzten Marsches nach Stalingrad auf ihre Ausdauer, als die Männer die Entfernung von zweihundert Kilometern in zwei vollen Tagen zurücklegten. Und dennoch musterte der Oberst voller Besorgnis die Gesichter der Soldaten, die an der Hauptkampflinie angekommen waren, in der Hauptstoßrichtung.
Gurtjew glaubte an seine Kommandeure. Der junge, keine Müdigkeit kennende Stabschef, Oberst Tarassow, konnte Tag und Nacht im von Explosionen erschütterten Unterstand über den Karten sitzen und das schwierige Gefecht planen. Seine Geradlinigkeit und schonungslose Urteilskraft, seine Gewohnheit, dem Leben in die Augen zu schauen und die Wahrheit des Krieges zu suchen, wie bitter sie auch sein mochte, gründeten sich auf einen eisernen Glauben. In diesem kleinen, sehnigen jungen Mann mit dem Gesicht, der Sprache und den Händen eines Bauern lebte die unbezwingbare Kraft des Geistes und Denkens. Swirin, der stellvertretende Divisionskommandeur in der politischen Abteilung, besaß einen starken Willen, einen scharfen Verstand und asketische Bescheidenheit, er verstand es, ruhig zu bleiben und heiter zu lächeln, wo dem ruhigsten und lebensfrohesten Menschen das Lächeln vergangen wäre. Die Regimentskommandeure Markjolow, Michaljow und Tschamow waren der Stolz des Obersten, er glaubte an sie wie an sich selbst. Über Tschamows ruhige Tapferkeit, über Markjolows unbeugsamen Willen, über Michaljows hervorragende Charaktereigenschaften – er war der Liebling des Regiments, ein sanfter, äußerst sympathischer Mensch, der väterlich um seine Untergebenen besorgt war und keine Angst kannte – sprachen alle in der Division voll Liebe und Begeisterung. Und dennoch musterte der Oberst besorgt die Gesichter seiner Kommandeure, denn er wusste, was die Hauptstoßrichtung bedeutete, was es hieß, die große Stalingrader Verteidigungslinie zu halten. »Werden sie es aushalten, werden sie standhalten?«, dachte der Oberst.
Kaum hatte sich die Division in den steinigen Boden Stalingrads eingegraben, kaum war die Führung der Division in den tiefen Stollen eingezogen, der in den Sandsteinfelsen über der Wolga gehauen worden war, kaum waren die Fernmeldeleitungen gelegt und ratterten die Funksender, die die Gefechtsstände mit der Artillerie verbanden, die jenseits der Wolga ihre Feuerstellungen bezogen hatte, kaum war die tiefe Dunkelheit der Nacht von der Morgendämmerung abgelöst worden, da eröffneten die Deutschen das Feuer. Acht Stunden hintereinander griffen »Junkers Ju 87« die Verteidigung der Division im Sturzflug an, acht Stunden ohne eine Minute Pause kamen Welle auf Welle die deutschen Flugzeuge angeflogen, acht Stunden heulten die Sirenen, pfiffen die Bomben, erbebte die Erde, stürzten die Reste der Backsteinbauten ein, acht Stunden hingen Rauch- und Staubschwaden in der Luft, jaulten todbringend die Splitter. Wer das Geheul der von einer Fliegerbombe erhitzten Luft gehört hat, wer die Anspannung des ungestümen zehnminütigen Angriffs der deutschen Luftwaffe erlebt hat, der weiß, was acht Stunden intensiver Bombardierung durch Sturzkampfbomber sind. Acht Stunden feuerten die Sibirjaken mit ihrem gesamten Gerät auf die deutschen Flugzeuge, und wahrscheinlich ergriff ein Gefühl von Verzweiflung die Deutschen, als aus dieser brennenden, von schwarzem Staub und Qualm eingehüllten Erde rund um die Fabrik hartnäckig Gewehrsalven krachten, MG-Garben tackten und Panzerbüchsen sich mit kurzen Stößen in das rhythmische Getöse der Flaks mischten. Die Deutschen hatten schwere Regimentsgranatwerfer und Artillerie eingesetzt. Das zermürbende Zischen der Minen und Heulen der Granaten stimmte in das Pfeifen der Sirenen und Krachen der explodierenden Fliegerbomben ein. Das dauerte bis zur Nacht. In traurigem, ernstem Schweigen beerdigten die Rotarmisten ihre gefallenen Kameraden. Es war der erste Tag – das Einzugsfest. Während der ganzen Nacht verstummten die deutschen Granatwerferbatterien nicht.
In dieser Nacht empfing Oberst Gurtjew auf seinem Gefechtsstand zwei alte Freunde, die er über zwanzig Jahre nicht gesehen hatte. Die Männer, die sich jung und ledig voneinander getrennt hatten, trafen sich nun mit grauem Haar und faltiger Haut wieder. Zwei von ihnen befehligten Divisionen, der dritte eine Panzerbrigade. Sie umarmten sich, und alle um sie
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