Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
herum – ihre Stabschefs, Adjutanten und Majore der operativen Abteilung – sahen Tränen in den Augen der ergrauten Männer.
»Was für ein Schicksal, was für ein Schicksal!«, sagten sie. Und in der Tat: Das Treffen der Jugendfreunde hatte etwas Erhabenes und Berührendes in dieser entsetzlichen Stunde, inmitten der lodernden Fabrikgebäude und Ruinen Stalingrads. Ja, sie waren den richtigen Weg gegangen, wenn sie sich nun bei der Erfüllung der hohen, schweren Pflicht aufs Neue begegneten.
Die ganze Nacht hindurch donnerte und krachte die deutsche Artillerie, und kaum war die Sonne über der von deutschem Eisen aufgepflügten Erde aufgegangen, tauchten vierzig Stukas auf, und wieder heulten die Sirenen, und wieder stieg eine schwarze Staub- und Rauchwolke über der Fabrik auf und verdeckte die Erde, die Werksgebäude, die zerstörten Waggons, und sogar die hohen Fabrikschlote verschwanden im schwarzen Nebel. An diesem Morgen blieb Markjolows Regiment nicht in der Erde. Um dem entscheidenden Schlag der Deutschen zuvorzukommen, verließ es die Schutzräume, Bunker und Schützengräben, die Löcher in Beton und Stein, und ging zum Angriff über. Die Bataillone rückten über Schlackenberge und Trümmer vor, marschierten am Werkskontor aus Granit vorbei, passierten die Gleise und den Garten am Stadtrand. Tausende von grässlichen Bombentrichtern säumten ihren Weg, und über ihren Köpfen tobte die Hölle der deutschen Luftwaffe. Eiserner Wind schlug ihnen ins Gesicht, sie gingen immer weiter vorwärts, und wieder ergriff abergläubische Angst den Feind: Rückten da Menschen zum Angriff vor, waren sie sterblich?
Ja, sie waren sterblich. Markjolows Regiment marschierte einen Kilometer, bezog neue Stellungen, verschanzte sich dort. Nur hier weiß man, was ein Kilometer ist. Es sind tausend Meter, es sind hunderttausend Zentimeter. Nachts griffen die Deutschen das Regiment mit vielfach überlegener Stärke an. Bataillone der deutschen Infanterie zogen auf und schwere Panzer, die Maschinengewehre überhäuften die Stellungen des Regiments mit Eisen. Betrunkene Nahkämpfer drangen mit schlafwandlerischer Beharrlichkeit ein. Wie sich Markjolows Regiment schlug, davon erzählen die Leichen der gefallenen Soldaten, erzählen die Freunde, die hörten, wie in der Nacht und am nächsten Tag und wieder in der Nacht die russischen Maschinengewehre tackten, wie russische Granaten krachend explodierten. Die Saga dieses Kampfes erzählen die durcheinandergewürfelten und verbrannten deutschen Panzer und die langen Reihen der Kreuze mit deutschen Stahlhelmen, die in Zügen, Kompanien und Bataillonen angetreten sind.
Ja, sie waren einfache Sterbliche, und kaum einer von ihnen hat überlebt, aber sie haben ihre Sache erledigt.
Am dritten Tag schwirrten die deutschen Flugzeuge über der Division nicht mehr acht, sondern zwölf Stunden. Sie blieben nach Sonnenuntergang in der Luft, und aus dem hohen Dunkel des Nachthimmels erklangen die heulenden Sirenen der »Junkers«, und wie schwere Hammerschläge hagelten Sprengbomben auf die rot lodernde, qualmende Erde. Vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung feuerten deutsche Kanonen und Granatwerfer auf die Division. Hundert Artillerieregimenter arbeiteten im Raum Stalingrad für die Deutschen. Manchmal veranstalteten sie Feuerüberfälle, nachts bestrichen sie die Kampfzone mit zermürbendem methodischen Feuer. Zusammen mit den Granatwerferbatterien.
Mehrmals am Tag verstummten die deutschen Kanonen und Granatwerfer plötzlich, ließ der gewaltige Druck der Stukas mit einem Mal nach. Ungewohnte Stille trat ein. Dann schrien die Beobachter: »Achtung!«, und die Gefechtssicherung griff zu den Flaschen mit Brennstoff, die Panzernahbekämpfer öffneten die Patronentaschen, die MPi-Schützen rieben ihre Maschinenpistolen mit der Handfläche ab, die Granatwerferschützen zogen die Kisten mit den Granaten näher zu sich her. Diese kurze, minutenlange Stille bedeutete keine Verschnaufpause. Sie ging der Attacke voraus.
Bald schon kündigte das hundertfache Klirren der Raupen, das tiefe Dröhnen der Motoren die heranrollenden Panzer an, und der Leutnant schrie:
»Achtung, Genossen! Von links sickern MPi-Schützen ein.«
Manchmal kamen die Deutschen dreißig, vierzig Meter nah heran, und die Sibirjaken sahen ihre schmutzigen Gesichter, zerrissenen Uniformmäntel, hörten die kehligen Rufe verballhornter russischer Wörter, Drohungen und Spottreden. Waren die Deutschen davongefahren, dann
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