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Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)

Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)

Titel: Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Hellbeck
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fielen die Stukas mit neuer Wucht über die Division her, brachen die Feuerwellen der Artillerie und Granatwerfer wieder über sie herein. Bei der Abwehr der deutschen Attacken erwarb sich unsere Artillerie große Verdienste. Der Kommandeur des Artillerieregiments, Fugenfirow, und die Kommandeure der Divisionen und Batterien befanden sich zusammen mit den Batallionen und Kompanien der Division an der vordersten Linie. Über Funk waren sie mit den Feuerstellungen verbunden, und Dutzende von schweren weittragenden Geschützen am linken Ufer atmeten im Gleichklang mit der Infanterie, teilten mit ihr Besorgnis, Elend und Freude. Die Artillerie erledigte unzählige Dinge: Sie bedeckte die Stellungen der Infanterie mit einem Mantel aus Stahl, wie Pappe zerknautschte sie die überschweren deutschen Panzer, mit denen die Panzernahbekämpfer nicht fertig wurden, wie ein Schwert hieb sie die an die Panzerung gepressten Nahkämpfer von den Fahrzeugen ab, sie bestrich bald die Fläche, bald geheime Konzentrationsstellen, sie sprengte Felsen und jagte deutsche Granatwerferbatterien in die Luft. Nirgendwo spürte die Infanterie die Freundschaft und große Hilfe der Artillerie in diesem Krieg so stark wie in Stalingrad.
    Im Lauf eines Monats unternahmen die Deutschen einhundertsiebzehn Angriffe auf die Regimenter der sibirischen Division.
    Es gab einen furchtbaren Tag, als die deutschen Panzer im Verband mit der Infanterie dreiundzwanzigmal angriffen. Und diese dreiundzwanzig Angriffe wurden abgeschlagen. Während dieses Monats schwirrte die deutsche Luftwaffe jeden Tag, mit Ausnahme von drei Tagen, zehn bis zwölf Stunden über der Division. Und all das spielte sich an einer Front von anderthalb bis zwei Kilometern Länge ab. Mit diesem Getöse hätte man die Menschheit betäuben können, mit diesem Feuer und Metall hätte man einen Staat in Brand stecken und vernichten können. Die Deutschen glaubten, sie könnten die moralische Stärke der sibirischen Regimenter brechen. Sie glaubten, sie hätten das Widerstandsvermögen der menschlichen Herzen und Nerven überboten. Doch man staune: Die Menschen gaben nicht klein bei, wurden nicht verrückt, verloren nicht die Beherrschung ihrer Herzen und Nerven, sondern wurden stärker und ruhiger. Der schweigsame, bodenständige sibirische Volksschlag wurde noch schroffer, noch schweigsamer. Die Wangen der Rotarmisten fielen ein, ihre Augen blickten finster. Hier, in der Hauptstoßrichtung der deutschen Streitkräfte, hörte man in den kurzen Verschnaufpausen weder ein Lied noch eine Ziehharmonika noch ein leichthin gesagtes fröhliches Wort. Hier ertrugen die Menschen eine übermenschliche Anspannung. Es gab Zeiten, da schliefen sie drei, vier Tage hintereinander nicht, und den Divisionskommandeur, den grauhaarigen Oberst Gurtjew, trafen die leise gesagten Worte eines Kämpfers schmerzlich:
    »Wir haben alles, Genosse Oberst, Brot – neunhundert Gramm, und warmes Essen, das uns zweimal am Tag in Thermoskannen gebracht wird, aber man kann nichts essen.«
    Gurtjew liebte und achtete seine Männer, und er wusste, wenn ein Soldat »nichts essen kann«, dann geht es ihm richtig schlecht. Aber jetzt war Gurtjew ruhig. Er wusste: Es gibt keine Macht auf Erden, die die sibirischen Regimenter zum Weichen bringen könnte. Um diese große, harte Erfahrung waren die Soldaten und Kommandeure in den Kämpfen reicher geworden. Noch fester und vollkommener wurde die Verteidigung. Vor den Werksgebäuden war ein ganzes Geflecht von Pionierbauten entstanden – Unterstände, Gänge, Schützenstände; die pioniertechnische Verteidigung war weit vorgeschoben worden, über die Werksgebäude hinaus. Die Männer hatten gelernt, schnell und reibungslos unterirdische Manöver durchzuführen, sich zu konzentrieren, zu zerstreuen, durch Gänge aus einem Werksgebäude in die Schützengräben zu gehen und wieder zurück, je nachdem, wohin die feindliche Luftwaffe ihre Schläge richtete, je nachdem, woher die Panzer und Infanteristen der angreifenden Deutschen auftauchten.
    Mit der Erfahrung erstarkte auch die innere Härte der Männer. Die Division verwandelte sich in einen vollkommenen, hervorragend eingeregelten Organismus. Die Männer der Division selbst nahmen die psychischen Veränderungen nicht wahr, die sich in ihnen in dem einen Monat vollzogen hatten, den sie in der Hölle, an der vordersten Verteidigungslinie der großen Stalingrader Front, verbracht hatten. Sie glaubten, sie wären noch dieselben, die sie

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