Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
und wir müssen unsere Besatzungen darauf trainieren, wie sie sich im Notfall zu verhalten haben. Wir werden hier auf dem Mittelmeer noch häufiger trainieren. Eigentlich wollte ich schon morgen ein Manöver durchführen, aber dann hätte ich Euch und die anderen Passagiere vorher darüber informiert, um niemanden zu beunruhigen.«
»Das wäre nett gewesen«, entgegnete Jean mit einem schwachen Lächeln. »Nach dem Wecken durch die Alarmglocke werde ich bestimmt nicht so bald wieder Schlaf finden.«
»Dann geht ein paar Schritte mit mir«, schlug er vor. »Nach jedem Alarm überzeuge ich mich gern persönlich, dass alles in Ordnung ist.« Als sie sich ihm anschloss, setzte er hinzu: »Natürlich kann nur ein nervöser junger Wachposten eine venezianische Galeere mit einem Freibeuter verwechseln, doch die Männer sind jetzt hier im Mittelmeer besonders wachsam. Und falscher Alarm ist mir lieber, als einen Piraten zu übersehen.«
»Seid Ihr auf einem Schiff schon einmal von Seeräubern angegriffen worden, Captain?«
»Ein Mal, als ich noch ein Junge war.« Gordon runzelte die Stirn. »Das ist eine üble Sache und noch schlimmer, wenn Engländer in Gefangenschaft geraten. Die katholischen Länder haben religiöse Orden wie die Trinitarier, die sich mit dem Loskauf von Sklaven befassen, aber die protestantischen Länder sind nicht so gut organisiert.«
»Das wusste ich nicht.« Jean rief sich die Geschichte ihres Vaters von dem Angriff auf die Hermes in Erinnerung. »Selbst wenn man freigekauft würde, würde man vermutlich ein paar unangenehme Jahre in der Sklaverei verbringen.« Unangenehme und womöglich sogar tödliche.
»Und für eine Frau ist es noch schlimmer.« Gordon sah sie an. »Eine hübsche junge Frau wie Ihr mit solch ungewöhnlich rotem Haar würde einen hohen Preis auf den arabischen Sklavenmärkten bringen.«
Jean lachte und strich ihr vom Wind zerzaustes Haar zurück. Seit London hatte sie es weder gepudert noch eine Perücke aufgesetzt. Viel einfacher war, es natürlich zu belassen und nur zu einem Zopf zu binden. Die Seemänner und Passagiere hatten sich mittlerweile an das auffallende Rot gewöhnt. »Schön zu wissen, dass rotes Haar wenigstens für etwas gut ist.«
»Ihr würdet sicher für den Harem eines Sultans gekauft werden«, erklärte Gordon lachend. »Als seltene Kostbarkeit gewissermaßen.«
»Ich werde das als Kompliment betrachten.« Sie hatten den Bug der Mercury erreicht, und daher fuhr sie fort: »Ich glaube, ich werde eine Weile hierbleiben, falls es Euch nicht stört. Ich liebe es, den Wind in meinem Gesicht zu spüren.«
»Wir werden noch einen Seemann aus Euch machen, Miss Macrae«, sagte Captain Gordon und setzte seine Inspektion des Schoners fort. Jean hatte sich über die Gesellschaft des Kapitäns gefreut, aber jetzt wollte sie allein sein. Das Beste an dieser Reise waren die langen Stunden, in denen sie nichts anderes zu tun hatte, als das Wetter zu beobachten. Die Familie Macrae brachte die besten Wettermagier in England hervor - ihr Bruder war nur der jüngste einer langen, sehr bemerkenswerten Ahnenreihe.
Das Wetter zu beherrschen, war allerdings fast ausschließlich ein männliches Talent. Eine weibliche Macrae mochte eine bescheidene Gabe dafür haben, die Elemente zu beeinflussen, doch die großen Wettermagier waren immer Männer, was Jean ausgesprochen unfair fand.
Nicht, dass sie selbst je eine nennenswerte Magierin gewesen wäre. Viele renommierte Magier hatten ihr versichert, dass auch sie über beträchtliche Macht verfüge, aber sie hatte nie gelernt, sie voll und ganz zu nutzen. Außer in wirklich verzweifelten Situationen, was eine eher beunruhigende und unsichere Sache war.
Als sie vom Mädchen zur Frau herangewachsen war, hatte sie gedacht, sie würde ihre Schwierigkeiten überwinden und Macht so mühelos zu handhaben lernen, wie es die meisten Wächter taten. Doch dazu war es nie gekommen, und inzwischen hatte sie es fast völlig aufgegeben, es zu versuchen. In einer Familie von Magiern musste irgendjemand praktisch veranlagt sein, und auf Dunrath war das Jean gewesen. Während der jahrelangen Reisen ihres Bruders war sie zu einer kompetenten Gutsverwalterin geworden. Nach Duncans Heirat hatte seine Frau Gwynne sie ermutigt, sich eingehender mit Magie zu befassen, was sich als ganz nützlich für seherische Fähigkeiten und andere kleine Zaubereien erwiesen hatte. Aber eine große Zauberin würde sie nie werden.
Und eine Ehefrau wohl auch nicht.
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