Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
hielt das Fernrohr an ihr rechtes Auge und suchte langsam die Hafenkante ab. »Da sind sie!«
Die einstigen Sklaven eines Magiers hatten sich so sehr verändert, dass die kleine Gruppe Jean ohne den dunklen, hochgewachsenen Moses Fontaine vielleicht gar nicht aufgefallen wäre. Mit seiner ebenholzschwarzen Haut und der Eleganz eines Gentlemans, der stolzen Haltung und dem unübersehbaren afrikanischen Erbe war er unverwechselbar.
Am Arm hatte er Lily Winters, seine hübsche blonde zukünftige Frau. Damals, als sie und ihre Freunde von dem Bann befreit worden waren, war sie vor Schwäche kurz vor dem Zusammenbruch gewesen, doch nun war sie gesund und anmutig und von einer Eleganz wie der von Moses. Die als Tochter eines Dorfapothekers zur Welt gekommene junge Frau war heute die perfekte Lady.
Weitaus unruhiger als sie und Moses waren Jemmy und Breeda, das andere verlobte junge Paar. Von den vier Hörigen des Magiers war Jemmy in der schlimmsten Situation gewesen. Er war Schornsteinfeger gewesen, ein halb verhungerter und blasser Junge, der nicht so ausgesehen hatte, als würde er das Erwachsenenalter je erleben. Heute war er fit und stark und braun gebrannt. Da er nie einen Nachnamen gehabt hatte, nannte er sich James King, seit er seine Freiheit wiedergewonnen hatte. Für seine Freunde war er jedoch Jemmy.
Die Vierte war Bridget O'Malley, die irische Dienstmagd, deren leuchtend rotes Haar ganz ähnlich war wie Jeans. Nach ihrer Befreiung war es Breedas größter Wunsch gewesen, schreiben und lesen zu lernen. Jean hatte sie und Jemmy unterrichtet, und die Briefe, die sie ihr im Laufe der Jahre geschrieben hatten, bewiesen, welch gute Schüler die beiden gewesen waren. Jean dachte, dass sie der lebende Beweis dafür waren, dass Erziehung weit weniger wichtig war als Möglichkeiten. Breeda und Jemmy waren immer schon intelligent gewesen. Als sie befreit wurden und die Chance erhielten, sich weiterzuentwickeln, hatte sich dieses Potenzial entfaltet.
»Möchtest du mal sehen?« Jean hielt Annie das Fernrohr hin.
»Ich wusste gar nicht, dass es so viele unterschiedliche Menschen auf der Welt gibt!«, rief ihre Gefährtin aus, als sie sich den Hafen ansah. »Schwarze, weiße, braune Haut und alle möglichen Schattierungen dazwischen. Und wie die Leute angezogen sind, Miss Jean! Das ist gar nicht wie in Dunrath hier.«
»Nein, das ist es wirklich nicht.« Jean betrachtete interessiert die Gebäude und Anhöhen um den Hafen und dachte, dass einer der Vorteile, eine unverheiratete Tante zu sein, die Freiheit war zu reisen. Sie nahm ihre Haube ab und schwenkte sie, während sie gleichzeitig versuchte, ihren Freunden eine geistige Botschaft zukommen zu lassen. Entweder war es der Haube wegen, oder die geistige Verbindung funktionierte, denn Breeda sah sie und winkte aufgeregt, was die anderen ihr dann auch gleich nachmachten.
Das Anlegen schien ewig zu dauern, aber dann konnte Jean endlich über die Laufplanke zum Ufer hinunterlaufen, während Annie noch eine Weile auf dem Schiff blieb, um das Entladen ihres Gepäcks zu überwachen. Breeda erreichte Jean zuerst, und lachend und weinend fielen sie sich in die Arme. Die Umstände, unter denen sie sich begegnet waren, hatten eine tiefe Bindung zwischen ihnen geschaffen. Während Jean Lily an sich drückte, sagte sie: »Du siehst wunderbar aus! Marseille hat dir gutgetan.«
»Marseille und Moses' Familie.« Lily, die bei ihrer Gefangennahme Waise gewesen war, war ihrem Verlobten mit Freuden in den Haushalt seiner warmherzigen, aufgeschlossenen Familie gefolgt.
»Und du bist noch kleiner und zierlicher geworden, Jean«, stellte Jemmy mit einem schalkhaften Funkeln in den Augen fest. »Ein richtig kleines Ding.«
»Du bist auch nicht gerade besonders groß«, gab sie zurück. »Aber Breeda hat mir geschrieben, dass du der meistgefragte Jockey hier im Süden Frankreichs bist.«
»So ist es«, erwiderte er stolz. »Und ich entwickle mich auch schon zu einem gar nicht schlechten Trainer.«
Moses, der schon immer der Anführer des Quartetts gewesen war, zeigte auf die beiden Kutschen hinter ihnen. »Komm, Jean, wir wollen dich nach Hause bringen.«
Seine einst schlaksige Gestalt hatte sich zu der eines kräftigen Mannes entwickelt. Moses war in Sansibar geboren, als ältester Sohn eines geschäftstüchtigen Kaufmanns, der mit seiner Familie und der Zentrale seines Handelsimperiums nach Frankreich gezogen war, als Moses gerade mal sechs gewesen war.
Als designierter Erbe des
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