Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
werden nicht viel wert sein.« Die Sprache, die er sprach, war nicht Iske, doch dem Dialekt eines benachbarten Stammes ähnlich genug, dass Adia verstehen konnte, was geredet wurde.
Ein anderer erwiderte: »Ein paar Stangen Eisen sind sie wert, wenn sie überleben, da können wir sie auch mitnehmen.«
Er riss Chike auf die Beine, während der andere mit Adia ebenso verfuhr. Ihre Knie und Arme bluteten von ihrem Sturz. So weit die Iske zurückdenken konnten, hatten Sklavenhändler sie und andere Stämme überfallen. Keiner der Gefangenen kehrte je zurück. Adias Lieblingscousin und sein bester Freund waren eines Tages verschwunden, verschleppt von Sklavenhändlern.
Während die Menschenräuber Adia und Chike wegzerrten, dachte sie an die Sklaven ihres Vaters, Krieger, die bei Stammeskriegen in Gefangenschaft geraten waren, doch das war etwas anderes, als Kinder zu entführen. Hilf mir, Großmutter, betete sie im Stillen. Sie hatte Monifa, der Mutter ihrer Mutter, die erst vor einem Jahr gestorben war, sehr nahegestanden. Beim Beten spürte sie im Geiste die sanfte Berührung der Hände ihrer Großmutter. Halt durch, meine Kleine! Es besteht noch Hoffnung für die Zukunft.
Adia schloss die Augen und dankte den Ahnen, dass sie ihrer Mutter und dem Baby geholfen hatten zu entkommen. Dann betete sie, dass ihr Vater und die anderen Jäger die Sklavenhändler verfolgen und sie und ihren Bruder retten würden.
Aber diese Hoffnung schwand, als sie sich einem größeren Trupp von Sklavenhändlern anschlossen und aus dem fruchtbaren Tal der Iske hinausgetrieben wurden. Die Gruppe marschierte in Richtung Westen, auf das große Wasser zu. Dutzende anderer Gefangene waren da, sie alle waren in langen Reihen aneinandergekettet, und so war an eine Flucht nicht zu denken. Als Adia zum ersten Mal ein vergessen im Gebüsch liegendes Skelett sah, lief ihr ein kalter Schauder über den Rücken bei der Erkenntnis, dass irgendein armer Gefangener auf einem Marsch wie diesem gestorben war.
Bald hatte sie genug Skelette gesehen, um sie kaum noch zu beachten. Als noch mehr Wochen vergingen, begann sie, die Verstorbenen zu beneiden, weil sie nicht mehr laufen, schlechtes Wasser trinken oder versuchen mussten, von einer Hand voll gekochtem Korn am Tag zu überleben.
Es gab auch ein paar lichtere Momente. Ein großer, stämmiger junger Mann namens Mazi, der hinter Chike angekettet war, trug den Kleinen viele Stunden täglich. Er und Adia sprachen nicht dieselbe Sprache, doch er gab ihr zu verstehen, dass er ihren Bruder nicht als Last ansah. Dann trafen die Sklavenhändler mit einer anderen Gruppe zusammen. Verkäufe wurden abgeschlossen, Gefangene ausgetauscht, und Mazi wurde von den anderen fortgebracht. Adia vermisste ihn. Obwohl er nur ein paar Jahre älter war als sie, war er schon fast ein Mann, und mit ihm in ihrer Nähe hatte sie sich sicherer gefühlt.
Chike starb eine Woche, bevor sie die Küste erreichten. Adia sprach ein Gebet vor seinem ausgezehrten kleinen Körper und bat die Ahnen, sich seiner Seele ganz besonders anzunehmen, weil er noch so klein war. Dann riss ein Sklaventreiber sie auf die Beine, und der Marsch ging weiter.
Aber sie würde nicht sterben, oh nein, nicht sie! Adia vom Stamm der Iske würde überleben und eines Tages einen Weg finden, die Sklavenhändler für ihre Schandtaten büßen zu lassen.
5. Kapitel
D
as langsame Vorankommen der Mercury im belebten Hafen von Marseille gab Jean genügend Zeit, vor Aufregung fast aus der Haut zu fahren. Sie konnte sich gerade noch so weit beherrschen, um nicht vor Freude auf und ab zu hüpfen, aber Annie und sie hingen am Bug über der Reling und nahmen begierig die Bilder und Gerüche Frankreichs in sich auf.
»Das werden sie daheim in Dunrath niemals glauben«, sagte Annie glücklich. »Ich werde noch meinen Enkelkindern Geschichten von meiner Reise nach Marseille erzählen.«
»Ich auch«, stimmte Jean ihr zu, obwohl sie sich, was die Enkelkinder anging, nicht so sicher war.
Die Sonne spiegelte sich glitzernd auf der See, und trotz der breitkrempigen Haube, die Jean trug, musste sie die Augen mit der Hand beschatten, als sie zu den am Hafen wartenden Menschen hinüberblickte. War der Schoner schon so frühzeitig erkannt worden, dass ihre Freunde sie dort bereits erwarteten?
»Versucht es einmal hiermit, Miss Macrae.« Captain Gordon war neben ihr erschienen und reichte ihr sein Fernrohr. »Vielleicht könnt Ihr Eure Freunde sehen.«
»Danke.« Jean
Weitere Kostenlose Bücher