Die Statisten - Roman
Komische war, dass sie bei Weitem die Stärkere von beiden war und sie sich dennoch bewusst dafür entschied, in seiner Gewalt zu bleiben. Im Hause Pawar, daran bestand keinerlei Zweifel, hatte von jeher zweierlei Maà gegolten, eines für Ravan und ein anderes für seinen Vater. Wie schamlos Pawar Senior sich auch aufführen mochte, Parvati-bai würde ihn nie hinauswerfen. Vielleicht wusste sie aber auch nur nicht, wie sie es hätte anfangen sollen.
Seine Mutter konnte manchmal so unvernünftig sein! Ravan hatte ehrlich vorgehabt, den Lederbeutel noch am selben Tag, an dem er ihn gefunden hatte, zum Fundbüro der Taxifahrergewerkschaft zu bringen, hatte die Sache aber hinausgeschoben, weil er sich bezüglich der Echtheit der Scheine nicht sicher war. Jetzt wusste er Bescheid, und es war zu spät. Der Fahrgast, der das Geld vergessen hatte, war bestimmt schon im Fundbüro gewesen und mit leeren Händen wieder abgezogen. Und wie konnte man auch sicher sein, dass einer der Angestellten dort nicht den Beutel geöffnet und das Geld eingesteckt hätte? Anders als Ravan wussten die Leute bei der Gewerkschaft garantiert, dass es Tausend-Rupien-Scheine tatsächlich gab. Es war sowieso alles die Schuld des Fahrgasts. Er war abgehauen, ohne zu bezahlen, und hatte einen Beutel liegenlassen. Wie konnte man Ravan daraus einen Strick drehen? Und jetzt hatte Mr Pratik Shah, der Juwelier, ihm gesagt, dass Tausend-Rupien-Scheine bald per Regierungsbeschluss aus dem Verkehr gezogen werden würden.
Und dann hätte Ravan in die Röhre geguckt.
Diesmal hatte Ravan keinen Verband um den Kopf, und es regnete nicht und war auch nicht dunkel. Pieta musste gesehen haben, dass er es war. Ravan hatte den Eindruck, dass sie im Schatten unter dem Vordach des Lebensmittelladens auf der anderen StraÃenseite gestanden und sich erst in Bewegung gesetzt hatte, als er die Treppe von Chawl Nr. 17 heruntergekommen war. Trotzdem hielt er es für besser, keine Risiken einzugehen. Er drehte sich um, streckte den Arm aus und öffnete ihr die Tür.
Sie schien in Gedanken versunken und sah ihn nicht an, als sie einstieg. âWohin?â Er musste zwei Mal fragen, ehe sie begriff, dass er mit ihr redete.
âIns Büroâ, sagte sie, als ob die ganze Welt oder zumindest sämtliche Taxifahrer Bombays wissen müssten, wo ihr Büro war. Ravan war nur ein Mal dort gewesen, aber es stand nicht zu befürchten, dass er es je wieder vergessen würde, selbst wenn er das Gedächtnis verloren hätte. Es war ein geheiligter Ort, eine Kult- und Pilgerstätte. Er hatte oft gesehen, dass Katholiken, wann immer sie an einer Kirche vorbeikamen, den Kopf senkten und sich bekreuzigten. Ihr Büro hatte für ihn die gleiche Bedeutung. Jedes Mal, wenn er daran vorbeifuhr, schaute er nach oben und fragte sich, ob sie wohl gerade an ihn dachte, vielleicht sogar den Kopf aus einem der Fenster steckte, um zu sehen, ob er irgendwo in der Gegend war.
âWo ist das Büro?â
âAch, Verzeihungâ, sagte sie, âin der Nähe der Flora Fountain, Mahatma Gandhi Road.â
Oh ja. Ja, bitte. Oh, bitte, sag das noch einmal! Hatte man jemals zwei Wörter gehört, die so lieblich klangen wie âFlora Fountainâ, wenn sie von ihren Lippen kamen? Sie verwandelten sich augenblicklich in den Quell ewigen Lebens. Und welch transzendentaler Friede musste sich über den groÃen Mahatma senken, wenn sie seinen Namen aussprach! Ach, das Timbre dieser Stimme, ihre sanfte Bestimmtheit, die Höflichkeit und Wärme, die in ihr schwangen, ihre Klarheit, ihre Halb- und Vierteltöne, die subtilen Variationen, wie Wolken, die über gewaltige blaue Berghimmel zogen, ihre hauchzarten musikalischen Kadenzen, die erlesene Erziehung und die Gene, die sich in ihr offenbarten! Die kühle Weichheit von Samt, das war sie. Lange duftende Körner von Basmatireis; das sinnliche Rascheln von Tamarindenblättern vor dem ersten Hagelschauer des Sommers.
âVerzeihung, das habe ich gerade nicht ganz mitbekommen.â
âFlora Fountain. Sie haben mich vor Langem schon mal dorthin gefahren.â
Das war unglaublich; sie erinnerte sich noch! Sein Tag, ja seine ganze Woche war gerettet! Er hätte ihr gern so viele Dinge gesagt. Er könnte sie jeden Morgen ins Büro fahren. Umsonst, völlig umsonst. Und bestimmt keine Gefälligkeit. Im Gegenteil, Sie würden mir eine erweisen!
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