Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Statisten - Roman

Die Statisten - Roman

Titel: Die Statisten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A1 Verlag GmbH
Vom Netzwerk:
wandte sich zu ihrem Mann und sagte – im Flüsterton, da sie der Ansicht war, bestimmte Dinge sollten unter Eheleuten bleiben, wenngleich es nicht einfach war, ein privates Gespräch zu führen, wenn man in einem Chawl wohnte: „Mein Sohn und auch Ihrer, falls Sie das vergessen haben sollten! Und falls er tatsächlich zu diesen Frauen geht, bezahlt er wenigstens aus eigener Tasche – anders als sein Vater, der nicht nur zu ihnen ging, sondern die Dreistigkeit besessen hat, eine davon mit nach Hause zu nehmen! Ich danke Gott jede Stunde und jede Minute dafür, dass mein Sohn, wie Sie ihn ständig nennen, nicht nach seinem Vater schlägt!“
    Glaubte sein Vater wirklich, was er über ihn gesagt hatte, fragte sich Ravan, oder hatte er lediglich seine Frau provozieren wollen? So oder so, er hätte es besser wissen sollen. Anders als andere Mütter hätte Parvati-bai ihren Sohn nie in Schutz genommen, wenn er etwas Unrechtes getan hätte. Wenn Ravan beispielsweise wirklich eine dieser Damen mit der fingerdicken Schicht Talkumpuder auf dem Gesicht und dem lippenstiftverschmierten Mund, der wie eine Wunde darin klaffte, besucht und seine Mutter das herausgefunden hätte, wäre er noch in derselben Nacht aus der Wohnung geflogen – aber erst, nachdem Parvati-bai ihm mit dem Cricketschläger, den sie für renitente Kunden bereithielt, den Schädel eingeschlagen hätte. Doch dies vorausgeschickt, hätte sie niemandem, am allerwenigsten ihrem Mann, gestattet, schlecht über Ravan zu reden. Sein Vater musste an dem Abend eine unsichtbare Grenze überschritten haben, denn das war das allererste Mal seit seiner Kindheit, dass Parvati-bai Lali erwähnte, die Frau, die monatelang als die „Schwester“ seines Vaters bei ihnen gewohnt hatte.
    â€žTatsachen sind Tatsachen. Ich … ich sage, was in der Zeitung steht“, stotterte Shankar-rao, während er sich bemühte, möglichst unbeeindruckt zu tun, doch dann fiel ihm nichts weiter ein, und er saß einfach nur da und raschelte geräuschvoll mit der Zeitung.
    â€žUnd Sie glauben all das, was in der Zeitung steht? Und dazu noch in diesem widerwärtigen Schundblatt, das Sie sich unbedingt jeden Tag kaufen müssen? Das sagt schon einiges über den Zustand Ihres Kopfes!“
    Während seine Eltern über die Beschaffenheit seines Charakters diskutierten, schob Ravan die Hand tief unter den Stapel seiner Hemden, Unterhemden und Unterhosen. Nichts zu finden. Er schickte seine Finger ein zweites Mal auf Erkundung. Der Beutel war eindeutig nicht da. Wo war er abgeblieben? Was hatte seine Mutter damit angestellt? Wie konnte sie es wagen, sich an seinen Sachen zu vergreifen? Es konnte nur seine Mutter gewesen sein, faul wie sein Vater war, tat er nie mehr, als sich das zu greifen, was an gestreiften Unterhosen, Hemden und Hosen obenauf lag. Er war bereits kurz davor, eine von Mount Parvatis leisen, aber machtvollen Eruptionen zu unterbrechen und sie zu fragen, wie sie dazu kam, in seinen Sachen zu kramen und sein persönliches Eigentum verschwinden zu lassen, als die Spitze seines Zeigefingers etwas Weiches berührte. Es war nicht baumwollweich, sondern glatt-, teuer-, geschmeidig-lederweich.
    Idiot, immer in Hetze, immer voreilig, immer gleich in Panik, statt einmal tief durchzuatmen, bis hundert zu zählen, sich zu beruhigen und die Sachlage gelassen und systematisch zu überprüfen! Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn seine Mutter herausgefunden hätte, dass ihr Sohn einen Lederbeutel im Familienschrank gebunkert hatte, anstatt ihn seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben! Und nicht nur irgendeinen Lederbeutel, sondern einen, in dem hundertfünfzig Scheine à tausend Rupien steckten! Nein, darüber durfte man wirklich nicht nachdenken. Sie wäre schlicht ausgerastet. Er erinnerte sich daran, wie er einmal eine Acht- anna -Münze gestohlen hatte, um sich „Del Deke Dekho“ anzuschauen. Er war gerade mal neun gewesen. Aber sie hatte ihn grün und blau geprügelt. Jetzt war er zwar viel älter, aber das hätte sie nicht davon abgehalten, ihm bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen.
    Als er sah, wie seine Eltern einander angifteten, kam Ravan der Gedanke, dass sein Vater ein spilleriger, schäbiger Spinnerich mit dürren behaarten Beinen war, der seine Mutter bis zum Ende ihrer Tage in seinem Netz gefangen halten würde. Das

Weitere Kostenlose Bücher