Die Statisten - Roman
Wänden wie seine Mutter verbracht, und er konnte jede Regung und subtilste Veränderung in den verborgensten Tiefen ihres Geistes Wort für Wort in Sprache übersetzen. Eddie konnte ihre Gedanken hören. Er war nicht der beste aller möglichen Söhne. Genau genommen war er eine richtige Enttäuschung. Wie dieser unsägliche Junge vom vierten Stock war er nicht über die zehnte Klasse hinausgekommen. Nichts machte er ernsthaft. Er hatte keinerlei Ziel im Leben. Alles, was ihn interessierte, waren Filme und diese Katzenmusik namens Rock-ânâ-Roll. Die katholische Kirche hatte diese Musik beinahe als Teufelswerk verboten, aber Violet Coutinhos Sohn hatte nichts anderes im Kopf.
Hätte Eddie seinen Schulabschluss gemacht und ein Diplom in Maschinenbau oder Elektrotechnik bekommen, hätte Violet mit dem einstigen Chef ihres verblichenen Ehemanns bei Air India gesprochen und ihm Victors Job besorgt. Für einen Arbeitsplatz bei dieser Airline hätte jeder andere seinen rechten Arm gegeben, und den linken als Draufgabe dazu. Doch Eddie hatte kein Interesse. Er lebte in einer Phantasiewelt, war ständig damit beschäftigt, sich irgendwelche Geschichten auszudenken. Seine Mutter hatte nach Kräften versucht, ihm seine Hirngespinste und Luftschlösser auszutreiben, ihn auf den Boden der Tatsachen zu ziehen, doch ohne Erfolg.
âIch werde allmählich alt. Hände und Finger tun mir weh, und ich weià nicht, wie lange ich mit der Näherei noch weitermachen kann. Pieta hat Arbeit. Wieso kannst du dir keine besorgen?â
Eddie kicherte. Sie hatten diese Diskussion schon rund eine halbe Million Mal gehabt. âSie hat einen B.A., Mama. Ich, wie du dich vielleicht erinnerst, nicht.â
âEs ist eine Schande, dass du nicht mal die Abschlussprüfung nach der Zehnten geschafft hast! Aber du wirst dich nicht von deiner Schwester durchfüttern lassen! Irgendwann wird sie heiraten und zu ihrem Mann ziehen.â
Eddie lachte laut los. âDas möchte ich erleben, Mama! Wer soll Pieta schon heiraten? Die wird als alte Jungfer sterben.â
Eddie bereute diesen letzten Satz, noch ehe er ihn ausgesprochen hatte. Er war zu weit gegangen. Selbst seine GroÃmutter, die sich praktisch nie über ihn aufregte und sich nie in die ständigen Streitereien zwischen Mutter und Sohn einmischte, war empört, dass Eddie die unsichtbare Grenze überschritten hatte. âManche Dinge, Eddieâ, erklärte sie ihm, âsagt man nicht, niemals, nicht mal im Scherz! Besonders dann nicht, wenn sie so offensichtlich unwahr sind.â
Violet wusste, dass Eddie sie nur provozieren wollte. Aber es machte sie wütend, dass er so herablassend über seine Schwester sprechen konnte. âHüte deine Zunge, Eddie Coutinho! Pieta ist zehn von deiner Sorte wert. Und du brauchst nicht zu befürchten, sie könnte als alte Jungfer enden und dir auf der Tasche liegen. Du bist derjenige, der sich von ihr und deiner Mutter durchfüttern lässt! Und damit ist Schluss. Augenblicklich. Du wirst dir eine Arbeit besorgen â wie, ist mir egal.â
Vielleicht hatte Eddie sich das alles selbst eingebrockt. Wenn er an dem Tag nicht so dick aufgetragen hätte, hätte er wahrscheinlich noch zwei, drei Monate, vielleicht sogar ein ganzes Jahr so weitermachen können, ohne sich gezwungen zu fühlen, sich nach einem Job umzutun. SchlieÃlich waren derlei Scharmützel mit seiner Mutter nichts Neues. Er hätte es regelrecht vermisst, ja sogar befürchtet, seiner Mutter gleichgültig geworden zu sein, wenn sie ihm nicht tagtäglich so zugesetzt hätte. Eines Abends war er heimgekommen und hatte seiner Mutter die gute Nachricht mitgeteilt. Er hatte Arbeit gefunden, er würde in einer Autowerkstatt in Wadala als KFZ -Mechanikerlehrling anfangen.
Eddie mochte bis dahin ein Nichtsnutz gewesen sein, aber er war ihr Sohn. Violet hoffte, dass er mit Gottes Hilfe in sich gehen und sich bessern würde. Vielleicht würde er jetzt, wo er eine richtige Arbeit gefunden hatte, zu einem neuen Menschen werden. Irgendwann würde er gelernter Mechaniker sein, dann konnte er Werkstattleiter werden und es am Ende vielleicht bis zum Eigentümer des ganzen Betriebes bringen. Das war nicht so weit hergeholt, wie manche meinen mochten. Violets katholische Nachbarinnen, insbesondere die Mütter von Söhnen, die Chefsteward bei Indian Airlines, Kellner oder Koch
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