Die Statisten - Roman
fand das gar nicht witzig und wurde nicht müde, ihre Tochter daran zu erinnern, dass sie sich nur entsprechend Mühe geben müsse, um früher oder später das Sesam-öffne-dich zu finden und ihren rechtmäÃigen Platz in der Gesellschaft zu erringen und sogar den Ehrentitel âLadyâ vor ihrem Namen tragen zu dürfen.
Der einzige Grund, weshalb sich Eddie darauf freute, von der Autowerkstatt oder einem Dreh nach Hause zurückzukehren, war die Hoffnung auf einen Brief von Belle. Die Post aus London war unberechenbar. Ein paar Mal hatten Belles Briefe lediglich drei Tage bis nach Bombay gebraucht; zu anderen Gelegenheiten konnten sie für dieselbe Strecke zwischen fünf und fünfzehn Tage benötigen. Belles Handschrift auf dem Kuvert war nicht zu verkennen. Um zu wissen, ob eine junge Frau auf einer Klosterschule gewesen war, brauchte man sich nur ihre kalligraphischen Produkte anzusehen. Belle und Pieta und seine Mutter hatten natürlich unterschiedliche Schulen besucht, und ihre dickbäuchigen aâs, bâs, dâs, pâs und qâs waren keineswegs identisch, aber die Familienähnlichkeit war unbestreitbar.
Seltsam allerdings war, dass es Hunderttausende von Jungen gab, die von Jesuiten, Dominikanern, Salesianern oder anderen Orden betriebene Schulen in der Stadt besucht hatten und keine zwei von ihnen irgendwelche kalligraphischen Gemeinsamkeiten zeigten. Ihre Handschrift wies eine Variationsbreite von 180 Grad auf, mit Buchstaben, die knapp über dem Nullpunkt auf dem Rücken lagen, über solche, die pythagoreisch aufrecht gen 90 Grad strebten, bis hin zu welchen, die am anderen Ende des Halbkreises fast den FuÃboden der Zeile küssten. War das ein Bekenntnis zur eigenen Individualität oder nur die achtlose Schlampigkeit von Halbwüchsigen, die von Testosteron zugedröhnt waren und nicht wussten, was sie eigentlich vom Leben erwarteten?
Doch für Eddie lag etwas Geheimnisvolles, ja Mystisches in Belles unverwechselbaren mitternachtsblauen Federstrichen und dem blau-rot umrandeten Kuvert mit dem Aufdruck âBy Airmail/Par Avionâ, das auf dem Tisch unter dem an die Wand gengelten Hausaltärchen ruhte. Es war, als hätte der Brief Belle leibhaftig in den Raum getragen, als könnte man ihr Lachen hören und die erregende Sanftheit ihrer Haut spüren. Eddie zögerte das Ãffnen des Umschlags so lange wie möglich â manchmal sogar einen ganzen Tag â hinaus, um sich das Vergnügen des Lesens aufzusparen.
Es gelang Eddie nicht immer, allen ihren Ausführungen zu folgen â manche Wörter, die sie verwendete, manche Namen und Bücher, die sie erwähnte, sagten ihm gar nichts. Was war Hampstead Heath, Swiss Cottage, was waren shepherdâs pie oder scones ? Wer oder was war die Beeb , und was bedeuteten toff und tosh ? Wer waren Twiggy und Monty Python? Er war bislang davon ausgegangen, nicht Konkani, sondern Englisch sei seine Muttersprache, aber jetzt wurde ihm bewusst, dass es Wörter und Wendungen gab, ja sogar Sichtweisen, die ihm völlig fremd waren. Zum ersten Mal in seinem Leben reagierte er auf das Fremde nicht mit Abwehr, sondern holte das uralte âChamberâs Dictionaryâ, das seine Mutter auf dem College benutzt hatte, aus dem Regal und versuchte, dieses andere Englisch zu lernen.
Es war ihm unbegreiflich, warum Belle so viel Aufhebens um das Wetter machte, warum sie dermaÃen viel Zeit damit verbrachte, über den weiÃen und den grauen Nebel, den tristen Regen und den bedeckten Himmel zu reden, und wegen der Sonne so aus dem Häuschen geriet. Mit Sicherheit übertrieb sie, wenn sie mitteilte, niemals aus dem Haus zu gehen, ohne den Wetterbericht zu konsultieren, und sie hätte sich ein kleines Transistorradio gekauft â wohlgemerkt, nicht etwa um Musik zu hören, sondern für die Wettervorhersage! Wie war es möglich, dass das Wetter ihre gemeinsame Leidenschaft, die Musik, ausgestochen hatte? Was war mit Belle nur los? England war das Land, aus dem die Beatles, die Rolling Stones, The Who, Led Zeppelin und Eric Clapton kamen, ganz zu schweigen von Freddie Mercury. Er musste Belle unbedingt einen gepfefferten Brief schreiben, wie sie ihre absoluten Favoriten so schmählich vergessen konnte!
Aber man glaubt es kaum: Belle hatte begonnen, so schräge Sachen zu behaupten wie, es gäbe keine berauschendere Farbe auf der Welt als Grün; sie
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