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Die Statisten - Roman

Die Statisten - Roman

Titel: Die Statisten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A1 Verlag GmbH
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befürchten, doch das hier war Bombay, was jede intuitive oder statistische Voraussage bezüglich des Verkehrsaufkommens hinfällig machte. Die Nahverkehrszüge beförderten täglich Millionen von Menschen. Sie waren zuverlässig und, außer während des Monsuns, meistens auch pünktlich; doch auf jedem Bahnhof entbrannte regelmäßig ein tödliches Gerangel darum, den Vortagesrekord in der Disziplin zu schlagen, wie viele Tausend Passagiere sich in einen Waggon stopfen ließen, der offiziell zweihundert fasste.
    Aber es war nicht das Schieben, Drängen, Quetschen und Ohne-Fußhalt-am-Außenrand-des-Türrahmens-Hängen, was Eddie ängstigte; es war nicht das mörderische Gewicht des Schnapses, das seine Wirbel irreparabel aus dem Gefüge brachte, wovor ihm graute; und es war nicht der heiße, bösartige Gummi der Schläuche, der bläuliche Striemen in seine Haut rieb, was Panik in seinem Herzen auslöste. Was ihm in der unvorstellbaren schwitzigen Hitze von Bombay das Blut in den Adern stocken ließ, war die Tatsache, dass er sich ins Damenabteil würde schieben, drängen und quetschen müssen.
    Mutter Gottes, was, wenn sie wegen seiner Körpergröße und seiner breiten Schultern, ganz zu schweigen von seiner überdimensionierten Schwangerschaft Argwohn schöpften, ihm die Burka herunterrissen und die Polizei riefen? Was, wenn der Gitterschleier beim Hineindrängeln beiseite geschoben wurde und die Frauen sein unrasiertes Gesicht sahen und dann entdeckten, dass er Schmuggelware bei sich trug? Ein paar Wochen zuvor hatte er in der Zeitung gelesen, ein Mann, der verbotenerweise in einem Damenabteil reiste, sei um ein Haar von den – wie hatte es der Journalist ausgedrückt? – „zarten“ Damen gelyncht und dann aus dem fahrenden Zug geworfen worden.
    Ein Doppeldecker stand an der Kreuzung Linking Road und wartete darauf, dass es Grün wurde. Eddie war schon aus seinem Bus der Danda-Linie ausgestiegen, aber inzwischen hatte die Ampel umgeschaltet, und er rannte wie eine besessene Schwangere auf die Haltestelle zu, von der sich der Bus ruckelnd entfernte. Er rannte, hatte die Haltestange am Eingang zu fassen gekriegt, schaffte es aber nicht, sich hochzuziehen. Er drohte abzustürzen, als der Schaffner ihn hineinzerrte und kopfschüttelnd auf ihn einschimpfte. Eddie versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
    â€žIm neunten Monat schwanger, ich würd ja eher tippen im achtzehnten, und rennt wie eine Bekloppte, haben Sie keinen Funken Verstand in Ihrem dämlichen Schädel?“, schrie der Busschaffner. „Was, wenn Sie hingefallen und von dem Auto da hinten überfahren worden wären? Ihnen würd’s ja recht geschehen zu sterben, aber was ist mit dem Kind? Wenn ich Ihr Mann wäre, würde ich Sie augenblicklich verstoßen, dafür, dass sie das Leben meines Kindes aufs Spiel gesetzt haben!“
    Eddie keuchte mit seiner Baritonstimme ein atemloses „Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid“ heraus, und es war nur gut, dass er seine Burka noch immer auf dem Kopf hatte und schon die Treppe zum Oberdeck erklomm. Was für ein Glück, gleich ganz vorne war ein Sitz frei, direkt vor dem Fenster! Der Fahrtwind würde seinen Schweiß schnell trocknen. Der Oberdeckschaffner baute sich erwartungsvoll vor ihm auf, als ihm – Mist, Mist, Mist – bewusst wurde, dass er das Geld für den Fahrschein nicht aus seiner Hosentasche geholt hatte. Was sollte er jetzt machen? Er hechelte übertrieben und hob die Hand, um anzudeuten, dass er erst wieder zu Atem kommen müsse. „Ich habe nicht den ganzen Tag für Sie Zeit. Es gibt auch andere Fahrgäste.“ Der Schaffner rührte sich nicht von der Stelle. Eddie hatte keine andere Wahl, als die Hand unter die Burka zu stecken und seinen Geldbeutel herauszufischen. Schaffner und Sitznachbarn starrten auf seine behaarte Hand, als er eine Fünfzig-Paisa-Münze hervorholte und seinen Fahrschein entgegennahm.
    Die Krise zog vorüber. Eddie streckte die Beine aus und ließ den Wind durch das feine Gitternetz streichen, das seine Augen bedeckte. Die Ströme von Schweiß unter der Burka versiegten, und es juckte und zwickte ihn auch nicht mehr so. Während er zuschaute, wie der dicke Mond immer wieder in der Fensterscheibe erschien und verschwand, fielen ihm allmählich die Augen zu. Sein Kopf kippte zur Seite und kam auf der

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