Die Steampunk-Chroniken - Aethergarn
ein, brachte sich in Position, um längsseits zu gehen. Nun kam es auf den richtigen Zeitpunkt an. Zu früh oder zu spät und alles wäre vergeblich gewesen.
»Sir Geoffrey, wir müssen jetzt reagieren. Schnell, bevor es zu spät ist. Bitte, wir ...«
Der erste Offizier konnte seine Angst nun nicht mehr verbergen. Auf ein Nicken des Kapitäns hin wurde er von zwei kräftigen Matrosen von der Brücke geführt. Auch der Kapitän hatte Angst, sogar große Angst, wie ein Blick in seine Augen zweifelsfrei bestätigte, doch er beherrschte sich mustergültig. Er wusste, dass seine Mannschaft nur funktionierte, weil er sich nicht gehen ließ. Sir Geoffrey war ihm dankbar, ließ aber weiterhin das Schiff der Piraten nicht aus den Augen.
Gleich ... nur noch ein klein wenig näher ... warte ... warte ... nun komm schon ... jetzt!
Zeitgleich mit dem letzten Gedanken blitzte es an der Steuerbordseite auf, dann rollte der Donner der Abschüsse durch das Schiff. Auch wenn er sie nicht sehen konnte, so wusste er, dass die Kanonenkugeln durch den Æther auf das Schiff der Piraten zu rasten. Ihr Steuermann versuchte noch, das Ruder herumzureißen, aber es war zu spät.
Noch während auf der Brücke der Jubel der Besatzung aufbrandete, sah Sir Geoffrey, wie die Geschosse am Ziel ankamen. Aber sie prallten nicht an der Panzerung ab, sondern zerschlugen die Brückenfenster und verursachten im Kommandoraum des Gegners Tod und Zerstörung!
Guter alter Lionel! Die Wahrscheinlichkeit war minimal gewesen, aber es hatte ihre einzige Chance dargestellt. Die gepanzerte Außenhülle hätten sie mit ihren kleinkalibrigen Kanonen nicht überwinden können, sie mussten einen der wenigen verwundbaren Punkte treffen. Das aber gelang nur mit einem meisterhaften Schützen. Dass sein Butler ein derartiger Mensch war, hatte weder die Besatzung der World of Æther noch die Angreifer wissen können. Deswegen war der Anflug derart sorglos gewesen.
Und sie hatten es wirklich vollbracht, wenngleich es ihnen vorerst nur mehr Zeit verschafft hatte. Das Piratenschiff trieb steuerlos im Æther, aber die Geschütze waren noch einsatzbereit. Sobald sich das Passagierschiff in den Schussbereich der Kanonen der Schurken bewegte, würden diese feuern. Und die World of Æther war um ein Vielfaches verletzlicher als ihr Verfolger.
Dankbar registrierte Sir Geoffrey, dass der Kapitän den Jubel eindämmte und anordnete, wieder Kurs auf den Mond zu nehmen. Ein Brückenoffizier wurde abgestellt, die Piraten im Auge zu behalten, und der Heliograph versuchte erneut, die Königliche Wachflotille zu erreichen.
Sir Geoffrey jedoch begab sich in die Messe, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Vermissen würde man ihn erst später und der glückliche Ausgang würde wieder etwas zur Legende um seine Familie beitragen. Dass ein Scheitern sehr viel wahrscheinlicher gewesen war, daran würde sich schon nach kurzer Zeit niemand mehr erinnern. Und warum auch, immerhin war die tollkühne Tat ja gelungen. Jeder Zweifel hätte nur der Heldenverehrung im Weg gestanden und so etwas konnte man ja nicht zulassen …
Auch die Rolle seines Butlers Lionel würde in Vergessenheit geraten, was ihn nicht wenig ärgerte. So würde er selbst dafür Sorge tragen müssen, dass der wahre Held dieser Begebenheit eine angemessene Entlohnung erhielt. Wie üblich.
Und vielleicht sickerte ja genug seitens der Besatzung an die Passagiere durch, dass Lady Walsington ihn ein wenig bewundern würde. Um sie nicht zu kränken würde er diesen eigentlich unverdienten Ruhm ertragen.
Aber war das nicht ebenfalls irgendwie heldenhaft?
ENDE
Bernd Meyer
Geboren 1968 in Hamburg, wohnt mittlerweile mit seiner Familie und den Katzen etwas weiter nördlich. Schon früh verfiel er dem Rollenspiel, wo er recht viel ausprobiert hat, was den Mangel an Lieblingsgenres erklären könnte. Er machte mehrere Ausbildungen, unternahm zwischendurch das Risiko der Selbständigkeit und blieb nebenbei immer wieder beim Schreiben hängen. Im Rahmen von FOLLOW, eines Fantasy-Literaturvereins, wurden die ersten literarischen Gehversuche unternommen. Sein erstes Romanmanu-skript wartet noch auf den Feinschliff, während er dann und wann die eine oder andere Kurzgeschichte schreibt.
Bisherige Veröffentlichungen über die eigene Internetpräsenz http://www.bedlamboys.de sowie in der Anthologie "Berggeister" des Mondwolf-Verlages.
Die Schatten des Æ thers
Andreas
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