Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
zunehmend weniger mit dem heutigen Zeitgeist, so Walter, denn: „Je pluralistischer sich eine Gesellschaft entwickelt, desto weniger passt die kompakte Struktur einer geradlinigen Fortschrittskonzeption auf die Vielfältigkeit des Einzelnen.“ Gerade die neubürgerliche Mittelschicht habe deshalb ein Problem damit: „Die Mitte fürchtet den Kontrollverlust, setzt daher Fortschritt nicht mit Zukunftsgewissheit, sondern mit Zukunftsunsicherheit gleich. Man weiß nicht, was wird, ob überlieferte Werte und Maximen noch Gültigkeit haben. Fortschritt kann auch Entwertung bedeuten, muss nicht mehr mit stetiger Verbesserung übersetzt werden.“
Der Fortschritt hat, mit anderen Worten, seine Unschuld verloren. Er hat seine infantile Naivität und seinen juvenilen Ungestüm abgestreift. Das heißt nicht, dass man ihn rundheraus ablehnen sollte. Man fällt nur nicht mehr so leicht auf das Kindchenschema des Fortschritts herein: Nicht alles Neue ist toll, und nichts ist toll, nur weil es neu ist. Die Utopien der Vergangenheit mit ihren Haushaltsrobotern, fliegenden Autos und schwimmenden Gartenstädten, lösen bei uns bestenfalls noch sepiagetunkte Sentimentalität und retrofuturistische Nostalgie aus.
Und was sagt die Stein-Strategie dazu? Sind Steine konservativ? Sie sind jedenfalls nicht blauäugig progressiv und preschen vor in eine Zukunft, die sie sich erträumt haben. Sie sind aber ebenso wenig reaktionär. Steine blicken nicht sentimental auf eine Vergangenheit, in die sie sich zurücksehnen. Steine gehen buchstäblich und im symbolischen Sinn mit dem Fluss.
Graue Energie
Die Lösungen von heute sind die Probleme von morgen. Das ist unhintergehbar. Aber die größten Probleme der Gegenwart sind entstanden, weil Menschen in der Vergangenheit ihre Zeitgebundenheit verkannt und ihre Zukunftskompetenz überschätzt haben; weil sie Altbewährtes abgeräumt und Pflöcke für die Zukunft eingeschlagen haben, an deren Beseitigung wir uns heute abarbeiten dürfen. Am eindrücklichsten zu besichtigen ist diese Hybris – die, siehe oben, unheilige Kombination aus unreflektierter „Modernität“ und aktionistischer „Planung“ – im Städtebau. Ratlos stehen wir vor den in Beton gegossenen Ideologien und Sozialutopien der europäischen Nachkriegsarchitektur, die ab den 1960ern den ansatzlosen Sprung in die Ultramoderne wagte.
Einer, der das Verhängnis schon damals durchschaut hat, ist der Schweizer Ökonom und Architekturtheoretiker Lucius Burckhardt, der später für seine Erfindung der Spaziergangswissenschaften („Promenadologie“) Insider-Berühmtheit erlangen sollte. 1970 schrieb er über die damaligen städtebaulichen Utopien und deren absehbares Scheitern: „Die Tatsache des heutigen Verkehrsproblems führt zu Entwürfen, welche die Stadt zu einer so totalen Verkehrsmaschinerie ausbauen, dass wesentliche Freiheitsmomente der Stadt verlorengehen. Die Tatsache der Langfristigkeit und Trägheit der Umwandlung des steinernen Bestandes der Stadt führt zu Mobilitätsutopien, die solche Flexibilität offerieren, dass sie weder bezahlt noch auch nur in Anspruch genommen werden kann. Solche Utopien übersehen, dass feste Standorte nicht wegen der Steine der Häuser stabil sind, sondern aufgrund der unsichtbaren Ordnungen und Hierarchien, die sich um einen einmal gewählten Standort einstellen.“
Darin kommt ein feinfühliges Gespür dafür zum Ausdruck, dass Städte mehr sind als geplante und gebaute Infrastruktur, dass Orte eine Erinnerung haben, über die man sich nicht einfach hinwegsetzen sollte. „Design ist unsichtbar“, heißt der bekannteste Satz von Burckhardt. Es steckt in den Protokollen und Routinen des Alltags, die sich ihren Weg durch die mineralische Stadt aus Stein bahnen. Burckhardts eigene städtebauliche Utopie, an deren konkreter Umsetzung er sich in seiner Studienstadt Basel aktiv beteiligte, lautete in etwa: Wenn es uns gelingt, das Gedächtnis des Ortes gegen die zeitgeistige Idee der autogerechten Umgestaltung zu verteidigen – die Autofixiertheit der Stadtplaner so lange auszusitzen, bis sie von selbst verschwindet –, dann ist schon viel gewonnen. Die Berliner Hausbesetzer der späten 1970er folgten einer ähnlichen impliziten Logik. Ganze Altbau-Straßenzüge sollten in Kreuzberg einer Stadtautobahn weichen, was nur durch hartnäckigen Widerstand der Besetzer und die Mobilisierung der Öffentlichkeit verhindert wurde. Heute gehört der Kiez mit seiner intakten Infrastruktur
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