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Die Steine der Fatima

Die Steine der Fatima

Titel: Die Steine der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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Stein zurückholen. Ahmad dachte angestrengt nach. Wann mochte Saddin aufgebrochen sein? Vermutlich mitten in der Nacht. Er konnte also noch nicht allzu weit gekommen sein. Aber wie sollte er ihn finden, diesen schlüpfrigen, mit allen Wassern gewaschenen Betrüger?
    Ein Gedanke durchzuckte Ahmad, und augenblicklich stürzte er zum Fenster – die Taube! Sie gehörte Saddin, sie war an ihn gewöhnt, sie würde ihren Herrn finden. Er riss das Fenster so ungeduldig auf, dass das Fenstergitter fast herausbrach. Er musste sich weit über den Sims hinauslehnen, um die Taube sehen zu können. Sie lag in dem kleinen, mit Steinen gepflasterten Hof direkt unter seinem Fenster. Ihr Kopf und ihre Flügel waren so grotesk verdreht, dass kein Zweifel mehr bestand – sie war tot.
    Ahmad wollte vor Wut schreien. Um kein Aufsehen im Palast zu erregen, biss er sich stattdessen in die Fäuste, bis sie bluteten. Er war der größte Narr unter Allahs Sonne. Wieso nur hatte er sich im Zorn dazu hinreißen lassen, die Taube zu töten? Nun hatte er selbst das einzige Band zerschnitten, das ihn zu Saddin hätte führen können!
    Und der Stein, der heilige Stein? Er war für immer verloren. In der Hand eines Diebs, eines windigen Schurken würden die geheimnisvollen Kräfte, die dem Stein der Fatima innewohnten, schmählich missbraucht werden. Die Gläubigen würden weiter auf ihre Erlösung warten müssen. Und er war schuld. Er allein trug die Schuld an dem Elend, das nun über diese Welt kommen würde. Allah hatte ihn auserwählt, und er hatte nicht gut genug über den Stein gewacht. Niemals hätte er jemandem vom Stein der Fatima erzählen, niemals hätte er jemandem wie Saddin diesen Auftrag erteilen dürfen. Er hätte sich selbst darum kümmern müssen, dass der heilige Stein in würdige Hände geriet. Er hatte jämmerlich versagte.
    Ahmad lief durch das Arbeitszimmer und riss sich vor Verzweiflung büschelweise Haare aus. Nein, er war es nicht wert, auch nur einen Augenblick länger auf dieser Erde zu verweilen. Er konnte nicht darauf warten, bis ein gnädiges Schicksal ihn irgendwann von diesem elenden Leben erlösen würde. Er musste jetzt vor Allah treten, sofort, auf der Stelle. Sollte Er ihm seine gerechte Strafe zuteil werden lassen, sollte Er ihn richten. Mit zitternden Händen entnahm Ahmad einer Truhe einen kleinen schmalen Dolch. Dann entrollte er seinen Gebetsteppich. Er fiel auf die Knie und hob seine Hände zum Gebet, Tränen der Reue und der Scham strömten über sein Gesicht.
    »Allah, verzeih Deinem unwürdigen Diener! Verzeih ihm sein Versagen!«
    Vielleicht verzieh Allah Ahmad al-Yahrkun wirklich. Denn als er sich den Dolch in die Brust stieß, fühlte er nur einen kurzen, jähen Schmerz, bevor seine Welt in Dunkelheit versank und alles – die Tauben, Buchara, Nuh II. ibn Mansur, sogar Saddin und der Stein der Fatima – endgültig seine Bedeutung verlor.

    Die Zeit, die dem Tod Ahmad al-Yahrkuns folgte, war geprägt von allgemeinem Misstrauen und Unsicherheit. Ali, der sofort von Nuh II. gerufen worden war, hatte nur noch den Tod des geachteten Großwesirs feststellen können. Mitten in seinem Herzen steckte ein Dolch. Ein Unfall war natürlich ausgeschlossen, aber dennoch ließ Nuh II. diese Version in der Stadt verbreiten. Wer jedoch Ahmad umgebracht hatte, das fand niemand heraus.
    Nicht einmal Beatrice erfuhr von dem Brief, den Ali heimlich aus der steifen Faust des Toten entfernt hatte. So wusste nur er allein, wer Saddins Auftraggeber gewesen war. Er begriff, dass der Nomade Ahmad bewusst provoziert und auf eine falsche Fährte gelockt hatte.
    Was nach der Lektüre des Schreibens im Arbeitszimmer des Großwesirs geschehen war, das konnte Ali nur erahnen. Er hatte das halb herausgebrochene Fenstergitter und die Taube auf dem Hof gesehen. Vielleicht war ein Fremder gewaltsam in das Arbeitszimmer des Großwesirs eingedrungen, hatte ihn überwältigt und ihm schließlich den Dolch ins Herz gestoßen. Doch Ali vermutete, dass Ahmad al-Yahrkun durch eigene Hand gestorben war. Hatte Saddin geahnt, welche Konsequenz Ahmad aus diesem Brief ziehen würde? Ausgeschlossen war es nicht. Saddin durchschaute die Menschen – und manipulierte sie nach seinem Willen. Obwohl dieser Gedanke Ali Schauer über den Rücken jagte, dankte er Saddin im Stillen. Der Nomade hatte die Spur des Steins verwischt, somit Beatrice vor weiterer Verfolgung geschützt – und ihr dadurch das Leben gerettet.

    »Beatrice! Schnell, ich brauche

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