Die Steine der Fatima
Decken Augen, die Wände Ohren und die Teppiche einen Mund.«
Zuerst nahm Beatrice es gar nicht bewusst wahr. Als Nirman, Mirwats persönliche Dienerin, zu ihr kam, dachte sie nicht über den Grund nach. Das junge Mädchen hatte sich in den Finger geschnitten und bat Beatrice, sich die Wunde anzusehen. Der Finger war an der Kuppe hochrot und geschwollen, die Wunde hatte sich infiziert. Heimlich in der Nacht unter dem schwachen Licht einer einzelnen Öllampe schnitt Beatrice die Wundränder aus, wusch die Wunde mit heißem Wasser und desinfizierte sie mit Myrrhen-Öl, das sie auf in kochendem Wasser sterilisierte Baumwolllappen träufelte. Beatrice musste alles improvisieren, vom Skalpell – einem Obstmesser – bis hin zum Verbandsmaterial. Sie erklärte Nirman, dass sie die Hand für zwei Tage ruhig stellen müsste, wenn sie keine Infektion riskieren wollte, die sie töten oder sie zumindest den Finger kosten konnte. Nirman schien sie zwar kaum zu verstehen, denn wie die meisten Dienerinnen sprach auch sie so gut wie gar kein Latein, und Beatrices Arabisch war zu dem Zeitpunkt noch ziemlich lückenhaft, dennoch befolgte sie Beatrices Anweisungen. Schon nach zwei Tagen ging es dem jungen Mädchen viel besser. Sie war wieder in der Lage, ihre Arbeit zu verrichten, und nach weiteren drei Tagen war die Wunde so gut verheilt, dass Beatrice den Verband endgültig entfernen konnte.
Von diesem Zeitpunkt an suchten alle Frauen des Harems Beatrice auf. Zuerst kamen sie zögernd, heimlich am späten Abend oder in Begleitung von mehreren Freundinnen, als fürchteten sie sich vor der Fremden aus dem Norden. Doch schon nach kurzer Zeit verloren sie ihre Scheu. Die Frauen kamen mit Bauchschmerzen, Halsweh, tränenden Augen und schmerzenden Gelenken zu ihr. Manchmal hatte Beatrice so viel zu tun, dass sie sich an ihre Arbeit auf der Notaufnahme erinnert fühlte – mit der Ausnahme, dass sie hier Chirurgin, Gynäkologin, Kinderärztin und Allgemeinmedizinerin in einer Person war, und das ohne medizinische Hilfsmittel.
Eines Tages, es waren etwa zwei Monate seit Mirwats Heilung vergangen, wurde Beatrice durch lautes Klopfen geweckt. Verwundert setzte sie sich im Bett auf. Es war noch sehr früh am Morgen. Draußen war es dunkel, durch das Fenster konnte sie noch Sterne und die Sichel des Mondes sehen. Wer mochte sie zu so früher Stunde stören? Nicht einmal ihre Dienerin Yasmina, die sich sonst immer um alles kümmerte, schien aufgestanden zu sein. Das Klopfen an der Tür wurde ungeduldiger.
»Ich komme ja schon!«, rief Beatrice, schwang sich aus dem Bett und öffnete die Tür.
»Das wurde auch Zeit! Ich dachte schon, du würdest mich für den Rest der Nacht hier warten lassen!«
Sprachlos vor Überraschung sah Beatrice die alte Frau an, die sich auf einen Stock aus poliertem Ebenholz stützte und ohne eine Erlaubnis abzuwarten an ihr vorbei ins Zimmer humpelte. Es war Sekireh, die Mutter des Emirs. Die Frau war mindestens so alt wie die Welt, und im ganzen Palast gab es niemanden, der nicht vor ihr zitterte. Nicht einmal Mirwat traute sich, der Alten zu widersprechen.
»Ich grüße dich, Sekireh, der Friede sei mit dir!«, sagte Beatrice, verbeugte sich höflich vor der Alten und dankte im Stillen Mirwat für ihren Unterricht. Die Freundin hatte ihr nämlich während des Arabischunterrichts alles beigebracht, was sie über die Sitten, Bräuche und Umgangsformen im Palast wissen musste. »Was führt dich zu so ungewöhnlicher Stunde zu mir?«
Natürlich antwortete Sekireh nicht, obwohl Beatrice sicher war, dass die Alte sie nicht nur gehört, sondern auch verstanden hatte. Aber so war Sekireh. Wer sich nicht widerspruchslos ihrem Willen unterordnete, wurde bestenfalls ignoriert.
Schweigend sah Beatrice zu, wie sie durch das Zimmer humpelte, Möbel und Kleider genau betrachtete und sogar die Bettlaken zurückschlug, als vermutete sie darunter Geheimdokumente, die Beatrice als Spionin entlarven könnten. Dann humpelte sie zu Beatrice zurück und ließ abschätzend ihren strengen Blick über sie gleiten.
»Du siehst recht ordentlich aus für eine Barbarin«, sagte sie schließlich, und Beatrice beschloss, diese Worte als Kompliment zu betrachten. Sie war nicht gewillt, sich von Sekireh provozieren zu lassen.
»Ich danke dir«, antwortete sie lächelnd und verbeugte sich wieder. »Aber du hast sicher nicht schon vor dem Morgengebet den Weg zu mir auf dich genommen, um mir das zu sagen?«
Sekireh neigte den Kopf zur Seite.
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