Die Steine der Fatima
»Du verlierst keine Zeit.« Sie tippte nervös mit ihrem Stock auf den Boden. »Man erzählt sich, dass du etwas von der Heilkunde verstündest. Entspricht das der Wahrheit?«
Beatrice nickte. »Das ist richtig. In meiner Heimat bin ich Ärztin.«
»Ärztin. So.« Sekireh sah sie mit ihren überraschend hellen Augen durchdringend an. Diese Augen waren nicht braun wie bei den meisten Männern und Frauen hier, sie waren gelb. Diese ungewöhnliche Farbe verlieh ihnen einen fast diabolischen Ausdruck. Beatrice konnte sich vorstellen, dass man unter diesem Blick schnell ins Zittern geriet. »Weshalb sollte ich dir das glauben?«
Beatrice schüttelte lächelnd den Kopf und zuckte mit den Schultern. Was sollte dieses Spiel? »Du brauchst mir nicht zu glauben, Sekireh.«
Trotzig stieß die Alte mit dem Stock auf den Boden.
»Ich glaube dir aber. Ich habe Schmerzen. Kannst du mir helfen?«
Diese Worte klangen mehr nach einem Befehl als nach einer Bitte. Für einen Augenblick war Beatrice sprachlos.
»Du kannst es also doch nicht«, stellte Sekireh fest, und Beatrice war sich nicht sicher, ob Verachtung oder Enttäuschung aus dem Blick der Alten sprach.
»Nicht so schnell, Sekireh. Bevor ich etwas Genaues sagen kann, muss ich dich befragen und untersuchen. Wo hast du die Schmerzen und seit wann?«
»Seit einigen Wochen. Im Rücken und in der Hüfte. Sie werden von Tag zu Tag schlimmer.«
Beatrice nickte nachdenklich und ging bereits in Gedanken sämtliche Diagnosen durch, die passen konnten.
»Warst du schon bei einem anderen Arzt?«
»Bei wem denn? Etwa bei ibn Sina?« Sekireh stieß ein verächtliches Zischen aus. »Dieser junge Ali mag zwar schon in früher Kindheit all diese Bücher über die Heilkunde gelesen haben, doch ob er auch tatsächlich etwas davon versteht, weiß nur Allah. Aber so sind die Männer. Sie glauben ein Buch zu lesen bedeutet gleichzeitig zu wissen. In ihren Schulen unterrichten sie einander. Dabei weiß meine jüngste Urenkelin mehr über die Vorgänge des Lebens als einer von ihnen. Die Heilkunde gehört in die Hände von Frauen – die Männer wollen es nur nicht wahrhaben. Und jetzt frage ich dich, wie soll dieser ibn Sina meine Schmerzen lindern können, wenn mir nicht einmal warme Bäder und Samiras Kräuter helfen konnten?«
Beatrice unterdrückte ein Schmunzeln. Wie kam Ali al-Hussein nur zu seinem guten Ruf, wenn jeder, der über ihn sprach, ihn für einen Scharlatan zu halten schien?
»Gut«, sagte sie. »Ich muss dich untersuchen. Zieh dich aus.«
»Was fällt dir ein? Das werde ich nicht tun, auf gar keinen Fall!«, widersprach die Alte empört und stieß heftig mit dem Stock auf den Boden. »Ich werde mich nicht vor einer Barbarin…«
»Ich bin keine Wahrsagerin, ich bin Ärztin, Sekireh«, unterbrach Beatrice die Alte und versuchte, geduldig und freundlich zu bleiben. Manchmal fiel es ihr wirklich schwer, die Mentalität der Menschen hier zu verstehen. »Wenn du also möchtest, dass ich dir helfe, muss ich dich zuerst untersuchen. Dafür musst du dich ausziehen. Wenn du das nicht willst – in Ordnung, es ist deine Entscheidung. Dann kann ich aber auch nichts für dich tun.«
Die Alte runzelte die Stirn und dachte einen Augenblick nach. Ohne Beatrice anzusehen, begann sie schließlich langsam und umständlich ihre Kleider abzulegen.
Als Sekireh dann endlich nackt vor ihr stand, musste Beatrice sich Mühe geben, ihr Entsetzen zu verbergen. Unter den weiten, knöchellangen arabischen Kleidern war nicht zu sehen gewesen, wie dünn Sekireh war. Dabei ging ihre Magerkeit über einen altersbedingten Gewichtsverlust hinaus. Die Frau sah aus wie ein Skelett. Beatrice konnte fast jeden einzelnen Knochen erkennen. Die Haut hing in großen Falten von den dünnen Armen und Beinen herab. Vermutlich hatte Sekireh erst vor kurzer Zeit so stark abgenommen.
Tumorkachexie!, dachte Beatrice und tastete und klopfte vorsichtig die Wirbelsäule und den Brustkorb ab. Aber wo mochte der Tumor sitzen? Im Darm? In der Lunge? In einer Brust? Es gab viele Möglichkeiten.
»Hast du noch an anderen Stellen Schmerzen?«, fragte sie, um die Diagnose einzugrenzen, während sie mit geübten. Griffen die rechte Brust der Alten untersuchte.
»Manchmal«, antwortete Sekireh. Aus ihrer Stimme war jegliche Schroffheit und Überheblichkeit verschwunden. Sie war jetzt nicht mehr die Mutter des Emirs, die jeden im Palast mit ihren Launen tyrannisieren konnte. Sie war jetzt eine alte, kranke Frau. Und sie
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