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Die Steine der Fatima

Die Steine der Fatima

Titel: Die Steine der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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den Verfall um sich herum zu betrachten. Sie entdeckte zwei Löcher in einer Wand, groß genug, um Mäusen oder sogar Ratten Unterschlupf zu gewähren. Und tatsächlich ragte aus einem der Löcher ein dicker unbehaarter Schwanz hervor, der plötzlich in der dunklen Öffnung verschwand. Ratten! Beatrice schüttelte sich. Sie mochte diese Nagetiere nicht. Selbst beim Anblick der eigentlich niedlichen weißen Ratten in den Laboren und Zoohandlungen hatte sie nie vergessen können, dass ihre Verwandten die Überträger widerlicher Krankheiten waren, die die Menschen des Mittelalters immer wieder heimgesucht hatten. Eine Horde Kinder jagten sich im Stockwerk über ihnen laut lärmend über die engen dunklen Flure, sodass Staub und Putz von der Decke rieselten. Wie viele Menschen mochten allein in diesem Haus leben? Fünfzig, oder noch mehr?
    Wenn man sich die Lebensbedingungen der Menschen hier, den Schmutz, die Enge und die schlechte Ernährung vor Augen führte, konnte man nachvollziehen, weshalb sich Seuchen in den Städten des Mittelalters in rasender Geschwindigkeit auszubreiten vermochten. Ein Pestkranker in einem dieser Häuser reichte aus, um Buchara in ein Leichenschauhaus zu verwandeln und mehr als die Hälfte der Bevölkerung hinwegzuraffen. Beatrice erschauerte. Hoffentlich würde sie nie den Ausbruch einer Seuche miterleben. Der Gedanke, Krankheiten ausgeliefert zu sein, die im 21. Jahrhundert als ausgerottet galten oder wenigstens therapierbar waren, erschien unerträglich. Aber war sie wirklich so hilflos? Natürlich hatte sie hier keine moderne medizinische Ausrüstung, aber sie hatte ihr Wissen. Und mit diesem Wissen konnte sie vielleicht besser helfen als Ärzte wie dieser Ali, die über die Ursachen und Hintergründe vieler Erkrankungen nichts oder nur sehr wenig wussten. Bei diesem Gedanken richtete Beatrice sich kerzengerade auf, ihr Herz begann schneller zu schlagen. Weshalb nur hatte sie noch nicht daran gedacht, die heimischen Kräuter und Arzneien zu studieren, um ihre Wirkungen kennen zu lernen? Vielleicht ließen sich einige von ihnen als Ersatz für moderne Medikamente verwenden. Außerdem konnte sie die Menschen über Risiken aufklären und so dem Ausbruch von Seuchen vorbeugen. Weshalb nur war ihr die Idee nicht viel eher gekommen? Das war eine sinnvolle Aufgabe, die sie restlos ausfüllen würde. Vielleicht gelang es ihr sogar, Nuh II. davon zu überzeugen…
    »Kommt jetzt, ihr zwei!« Die Stimme der dicken Frau riss Beatrice aus ihren Gedanken. »Samira ist gewillt, euch anzuhören.«
    »Was, ich soll auch mitkommen?« Hannahs Augen weiteten sich vor Entsetzen.
    »Ja, du auch.«
    »Aber ich…«
    »Samira will euch beide sehen. Oder hast du etwa vor, Samiras Wunsch nicht nachzukommen?«
    Die drohende Stimme der Frau schien die arme Hannah völlig einzuschüchtern. Beatrice war nicht ganz klar, wovor Hannah sich eigentlich fürchtete, aber dass sie Angst hatte, war unverkennbar. Die arme Frau zitterte plötzlich am ganzen Körper.
    »Du hast Samira noch nie zuvor gesehen, nicht wahr?«, fragte Beatrice leise, während sie der Frau unter dem Teppich hindurch einen engen, düsteren Gang entlang folgten.
    Hannah schüttelte den Kopf. »Nein, Herrin. Jedes Mal, wenn meine Herrin Samira aufsucht, lässt sie mich vor dem Teppich warten.«
    »Hab keine Angst«, sagte Beatrice und ergriff die Hand der Dienerin. »Sekireh würde sich wohl kaum so oft an diese Samira wenden, wenn die Frau gefährlich wäre. Glaube mir, sie wird uns schon nicht verspeisen.«
    Doch als sie wenige Augenblicke später hinter der dicken Frau einen Raum betrat und zum ersten Mal Samira sah, war Beatrice sich dessen nicht mehr so sicher.
    Vor ihren Augen lag eine Szenerie wie aus einem Albtraum – ein niedriger fensterloser Raum mit rußgeschwärzten Wänden, der sie unwillkürlich an eine Grotte erinnerte, an eine unheimliche Höhle, die nur einer Hexe als Unterschlupf dienen konnte. Beatrice blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen und starrte wie hypnotisiert die Gestalt an, die auf einem Berg von Kissen an der Stirnseite des Raums thronte. Brennende Kerzen, deren Wachs auf den Boden tropfte, Räucherschalen, seltsame archaisch anmutende Statuen, Körbe und Gefäße standen um sie herum, als wäre der Boden zu ihren Füßen ein Altar, auf dem ihr die Anhänger eines düsteren geheimnisvollen Kults Opfergaben darbrachten. Dabei war die Frau – Beatrice nahm wenigstens an, dass es sich um eine Frau handelte –

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