Die Steine der Fatima
Er erinnerte an Marihuana. »Ist das etwa…«
»Schscht!« Samira legte einen Finger auf die Lippen. »Störe mich jetzt nicht. Sage kein Wort, bis ich dich dazu auffordere.«
Die Alte beugte sich tief über die Schale und inhalierte den Rauch.
Aha, das ist also tatsächlich eine Droge, dachte Beatrice.
Offensichtlich sollte das hier eine Seance oder etwas Vergleichbares werden. Beatrice glaubte nicht ans Pendeln, Tischerücken, an mediale Fähigkeiten, Geister und Ähnliches. Diese Dinge gehörten höchstens in düstere Kriminalromane oder Horrorgeschichten. Es waren die richtigen Zutaten, um dem Leser einen wohligen Schauer über den Rücken rieseln zu lassen. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass sie bis vor Kurzem auch nicht an die Möglichkeit von Zeitreisen geglaubt hatte. Vielleicht war an diesem ganzen Humbug doch etwas Wahres dran? Eine gewisse Neugier konnte sie nicht leugnen. Also hielt Beatrice den Mund und wartete gespannt darauf, was als Nächstes passieren würde.
Mit der Zeit breitete sich der betäubende Rauch im ganzen Raum aus. Beatrice fühlte eine wohlige Wärme in sich aufsteigen. Ihr Kopf und ihre Glieder verloren ihr Gewicht, den Lehmboden unter sich spürte sie kaum noch. So ähnlich hatte sie sich immer die Schwerelosigkeit vorgestellt. Sie fühlte sich federleicht, und als sie auf ihre im Schoß liegenden Hände blickte, glaubte sie, durch ihren Körper hindurch auf den Boden sehen zu können. Vielleicht war sie doch nur ein Geist oder ein Traumgebilde. Vielleicht war sie gar nicht hier, in diesem Raum, in dieser Zeit, vielleicht war sie nichts anderes als ein Gedanke. Ihr Körper verlor allmählich seine Konturen, aber sie war nicht entsetzt, sie hatte keine Angst. Im Gegenteil, sie fühlte sich so leicht, so frei, so unabhängig von allem Materiellen. Sie war reiner Geist.
Samira hob ihren Kopf und begann mit tiefer dunkler Stimme in einer fremden Sprache zu singen. Ihre glasigen Augen waren auf Beatrice gerichtet. Sie sah durch sie hindurch, und dennoch hatte Beatrice den Eindruck, dass dieser Blick sie zusammenhielt, verhinderte, dass sie sich mit dem Rauch vermischte und irgendwo in den Sphären des Unstofflichen verlor. Sie war nicht sicher, ob sie sich darüber freute oder ärgerte. Doch das war unwichtig. Sie fühlte sich gut. Und dieses Gefühl sollte nicht durch negative Schwingungen beeinflusst werden.
Samira sang weiter, und Beatrice begann, sich im Rhythmus dieses Liedes zu bewegen. Wie eine Kobra wiegte sie den Oberkörper hin und her und schloss dabei die Augen.
Hinter ihren Lidern bekamen die Töne Farben – warme, satte Farben voller Leben und Leidenschaft. Die Farben schienen jedoch ihren Ursprung nicht in Samiras Stimme zu haben, sondern aus dem Stein hervorzusprudeln wie frisches Wasser aus einer klaren, reinen Quelle. Beatrice öffnete die Augen und wurde fast geblendet von dem gleißenden Blau, das der Stein auf Samiras Handfläche ausstrahlte.
Die Alte zog einen Korb heran und hob den Deckel. Eine Woge von Dunkelheit stieg aus dessen Inneren auf. Beatrice bekam unerklärliche Angst. Eine eiskalte Hand schien ihre Kehle zu umklammern und langsam zuzudrücken. Sie keuchte und griff sich instinktiv an den Hals. In diesem Augenblick warf Samira den Stein in den Korb. Wie in Zeitlupe sah Beatrice die Kurve, die der Stein in der Luft beschrieb. Sie wollte aufschreien und ihn auffangen. Dieser wunderschöne, vollkommene Stein sollte nicht in die Finsternis stürzen. Sie musste das verhindern, um jeden Preis. Aber etwas hielt sie zurück und lähmte sie. War es eine Stimme, eine Hand oder ein Zauber? Sie bekam keinen Ton heraus und war nicht in der Lage, sich zu rühren. Hilflos musste Beatrice mit ansehen, wie der Stein langsam und unausweichlich in die Dunkelheit fiel. Doch dann hörte sie den Aufschrei Hunderter greller Stimmen aus dem Inneren des Korbs. Es klang nach Schmerz, nach Wut, nach Todesangst. Widerliche dunkle schwarze Käfer, Schlangen, schleimige Würmer und riesige dicht behaarte Spinnen, ganze Hundertschaften ekelhafter Kreaturen schossen in wilder Panik aus dem Korb heraus, um im nächsten Augenblick kreischend zu verenden. Ihre Leiber zischten, und nach wenigen Sekunden blieben nur noch kleine rauchende Aschehaufen übrig. Aus dem Inneren des Korbs jedoch leuchtete es strahlend blau, und Beatrice lachte befreit auf. Sie konnte gar nicht mehr damit aufhören. Sie lachte so sehr, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen und ihr
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