Die Steine der Fatima
Gassen, ohne dass jemand Notiz von ihnen nahm.
Nuh II. sollte eigentlich davon erfahren, dachte Beatrice. Vielleicht würde er daraus lernen und seinen Frauen mehr Freiheit einräumen.
Je weiter Hannah und Beatrice den Palast hinter sich ließen, um so ärmlicher wurde die Gegend, bis sie schließlich ein Viertel erreichten, das man selbst mit viel Wohlwollen nur als Slum bezeichnen konnte. Die Häuser waren alt und baufällig, Putz und Mörtel bröckelten von den Mauern, Fensterläden und Türen waren oft nur notdürftig mit Brettern geflickt oder fehlten ganz. Die Gassen waren düster und so eng, dass Beatrice beim Gehen mit beiden Schultern rechts und links gegen die Häuser stieß. Die Straßen waren hier nicht gepflastert, sondern bestanden aus festgestampfter gelblicher Erde, die dort, wo Frauen ihre Waschschüsseln oder Töpfe entleert hatten, zu einem glitschigen Schlamm aufgeweicht war. Es stank nach Urin, Kot und verfaulenden Abfällen. In den Hauseingängen lagen in schmutzige Lumpen gehüllte Gestalten und schliefen, ohne sich, wie es schien, von den Fliegen stören zu lassen, die sich auf ihnen tummelten. Beatrice sah einen Mann, dessen Beine knapp oberhalb der Knie amputiert waren. Er bewegte sich mühsam auf den beiden mit Lappen umwickelten Stumpfen vorwärts und stützte sich auf eine notdürftig aus Stöcken zusammengezimmerte Krücke. Als Hannah und Beatrice an ihm vorbeikamen, streckte er ihnen seine Hände entgegen und flehte um Brot und Geld. Beatrice wandte sich beschämt ab. Ihr waren die Kleider, die sie jetzt trug, ärmlich erschienen. In den Augen dieses Mannes waren sie trotzdem zwei wohlhabende Frauen.
Eine Häuserecke weiter stritten sich zwei magere Kinder mit einem struppigen Hund um etwas, das der Hund wohl in einem stinkenden Abfallhaufen gefunden hatte und von dem Beatrice vermutete, dass es essbar war. Die beiden Jungen versuchten, mit Holzknüppeln den Hund zu vertreiben, aber das Tier, dem bereits aus früheren Kämpfen ein Ohr und ein Auge fehlten, verteidigte verbissen seine Beute. Knurrend und zähnefletschend sprang er die beiden Jungen an. Erst als Beatrice und Hannah sich ihnen näherten, stoben alle drei erschrocken davon und ließen das Streitobjekt zurück – einen halb verfaulten Schafskopf.
Beatrice wurde übel. Sie hatte schon so lange den Luxus des Palastlebens genossen, dass sie vergessen hatte, dass es außerhalb der Palastmauern notgedrungen auch arme Menschen gab. Während sie beinahe zu jeder Tageszeit von den feinsten und köstlichsten Speisen so viel essen konnte, wie sie wollte, balgten sich hier Kinder mit einem Hund um ungenießbare Abfälle. Doch Hannah ließ ihr keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Die Dienerin zupfte ungeduldig an ihrem Ärmel.
»Kommt, Herrin«, flüsterte Hannah, sodass die Kinder, wo sie sich auch verstecken mochten, sie nicht hören konnten. »Wir sind gleich da, und die Zeit drängt.«
Als Beatrice der Dienerin in einen schmalen dunklen Durchgang folgte, hörte sie, wie hinter ihnen die Kinder und der Hund wieder aus ihren Verstecken krochen und ihren Kampf um den Schafskopf fortsetzten.
Hannah und Beatrice bogen um eine Ecke und betraten eine besonders schmutzige Gasse. Schmale, völlig verwahrloste Häuser neigten sich den beiden Frauen entgegen, als wollten sie sie unter sich begraben. In einigen der dunklen dicht an dicht liegenden Hauseingänge standen Frauen. Ohne Hannah und Beatrice zu beachten, unterhielten sie sich miteinander und ließen dabei den billigen Blechschmuck an ihren Hand- und Fußgelenken klimpern. Ausgerechnet in dieser Gasse blieb Hannah stehen.
»Hier ist es«, sagte sie und deutete auf den Eingang. »Wir sind am Ziel. Hier wohnt Samira.«
Es war das baufälligste Haus, das Beatrice jemals gesehen hatte. Die Steine schienen nicht mehr vom Mörtel gehalten zu werden, sondern nur noch lose aufeinander zu liegen. Türen und Fensterläden gab es nicht, stattdessen hatte jemand verdreckte Laken und alte, von Motten zerfressene Teppiche vor die schmalen Fensteröffnungen gehängt.
»Hierher kommt Sekireh?«, fragte Beatrice ungläubig.
»Gewiss, Herrin«, antwortete Hannah mit einem Lächeln. »Mindestens einmal im Monat. Und ich begleite sie jedes Mal seit mittlerweile über dreißig Jahren.«
Hannah hob die schmutzige Decke hoch, hinter der sich eine Tür befand, und ging hinein. Nur zögernd folgte ihr Beatrice. Der Gestank, der ihnen im Inneren des Hauses entgegenschlug, war kaum zu ertragen.
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