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Die Steine der Fatima

Die Steine der Fatima

Titel: Die Steine der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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fragte er die Männer, die neben ihm standen.
    »Das weiß nur Allah«, antwortete einer von ihnen und zuckte ratlos mit den Schultern. Er sprach leise, wie es Menschen im Zimmer eines Kranken zu tun pflegen. »Allerdings muss Saddin sich beeilen. Wenn er es nicht bald schafft, das Fohlen im Leib der Stute zu drehen, wird er beide verlieren. Bereits seit heute Nacht liegt die Stute in den Wehen. Sie ist sehr stark und tapfer, aber dennoch wird sie nicht mehr lange durchhalten. Sie ist mit ihrer Kraft am Ende.«
    Unruhig trat Ahmad von einem Bein auf das andere. Es interessierte ihn nicht, dass diese Stute gerade ein Fohlen zur Welt brachte. Es war ihm auch gleichgültig, ob sie und ihr Fohlen die Geburt überleben würden oder nicht. Er machte sich nichts aus Pferden. Und gerade jetzt, da es um den Stein ging, von dem das weitere Schicksal aller Gläubigen abhing, war das Leben einer Stute und ihres Fohlens das Unwichtigste, was er sich vorstellen konnte. Doch Ahmad schwieg. Er wagte nicht, den Nomaden ein zweites Mal anzusprechen. Saddin wiederholte sich nie, und wenn er in Zorn geriet, war er unberechenbar. Wenigstens war er zurzeit außerstande, den heiligen Stein an jemanden weiterzuverkaufen. Mit diesem Gedanken tröstete sich Ahmad und blieb schweigend im Kreis der anderen stehen. Unbeteiligt sah er zu und betete im Stillen für die Sicherheit dieser Kostbarkeit. Doch mit der Zeit nahm ihn das Geschehen mehr und mehr gefangen. Er begann wie alle anderen hier, sich um die Stute und ihr ungeborenes Fohlen zu sorgen.
    Die Stute zitterte vor Erschöpfung. Ihr Wiehern wurde immer leiser und schwächer. Unwillkürlich fing Ahmad an die neunundneunzig Beinamen Allahs zu rezitieren. Die Perlen des Rosenkranzes glitten durch seine Finger, während die Stute und ihr Fohlen um ihr Leben kämpften. Endlich ging ein Raunen durch die Versammelten. Ahmad stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Und dann entdeckte er es – Saddin hielt zwei kleine, zierliche Beine in seinen Händen, um die er geschickt ein Seil wand.
    »Sala, zieh du das Fohlen heraus«, sagte er zu einem der Umstehenden, drückte dem Mann das Seil in die Hand und kroch zum Leib der Stute.
    Das arme Tier war mittlerweile so erschöpft, dass es nur noch keuchte. Saddin stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Leib des Tieres und begann mit beiden Armen, die Wehen zu unterstützen. Immer wenn er von oben gegen den Bauch der Stute drückte, zog der andere Mann an dem Seil, und Stück für Stück wurde das Fohlen geboren. Atemlos sah Ahmad zu, wie zuerst zwischen den Vorderbeinen die Nüstern des Fohlens sichtbar wurden, dann die geschlossenen Augen, die Ohren und der Hals. Und plötzlich ging alles so schnell, dass Ahmad dem Geschehen kaum mit den Augen folgen konnte. In einem Moment zog der Mann noch am Seil, Saddin drückte den Bauch der Stute zusammen, und im nächsten lag ein Fohlen, nass und mit einer seltsamen weißen Haut, auf dem Stroh. Zwei der umstehenden Männer knieten sofort nieder und begannen, das Neugeborene mit Strohbündeln trocken zu reiben, während Saddin sich um die Nachgeburt kümmerte. Fasziniert sah Ahmad zu, wie das Fohlen die Augen öffnete und den Kopf hob. Mit einem erstaunten, fast ungläubigen Ausdruck in den großen dunklen Augen sah es sich um. Sein Kopf schwankte hin und her, als hätte der dünne Hals noch nicht genügend Kraft, das Gewicht zu tragen. Es war das erste Mal, dass Ahmad einer Geburt beigewohnt hatte. Voller Rührung betrachtet er das winzige Wesen, das dort im Stroh vor ihm lag. Wie herrlich, wunderbar und vollkommen war doch die Schöpfung Allahs, des Allmächtigen!
    Mühsam und sichtlich erschöpft richtete sich Saddin auf. Notdürftig wischte er sich das schweißnasse Gesicht und seine blutigen Hände an einem Tuch ab. Sein Hemd und seine Hose waren blutbefleckt, das Haar klebte in feuchten Strähnen an seinem Kopf. Er sah aus, als wäre er gerade aus einer Schlacht heimgekehrt. Die anderen Männer schlugen ihm auf die Schultern, beglückwünschten ihn zu der Geburt des Fohlens, und trotz seiner Müdigkeit strahlte er vor Freude und Erleichterung. Doch als Saddins Blick auf Ahmad fiel, verschwand das Lächeln von seinem Gesicht.
    »Erwartet mich in meinem Zelt«, sagte er über die Köpfe und Schultern der anderen hinweg. »Ich bin gleich dort.«

    Von außen unterschied sich Saddins Zelt von denen der anderen Nomaden lediglich durch seine Größe. So unscheinbar und grau, wie es

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