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Die steinerne Pforte

Die steinerne Pforte

Titel: Die steinerne Pforte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Prevost Andre
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die schräg durch die Außenmauern verlaufenden Holzbalken. Sie kamen über eine Brücke mit zwei Bögen, unter der ein paar Schwäne schliefen, die Schnäbel tief im Gefieder vergraben. Die Brücke führte durch die innere Stadtmauer von Brügge, hinein ins Herz der Stadt, das noch dichter bebaut war als das Viertel von Sankt Anna. Die Häuser drängten sich dicht aneinander und schienen sich leicht nach vorn zu neigen, um ihr Spiegelbild im Wasser des Kanals zu bewundern. Die trutzigen Umrisse des Belfrieds, Brügges ganzem Stolz, erhoben sich über den weißen Dächern wie ein aufmerksamer Wachposten. Baltus erzählte ausführlich die Geschichte seiner Erbauung, doch Samuel war so fasziniert von allem, was er sah, dass er ihm kaum Aufmerksamkeit schenkte. Sie setzten ihren Weg durch eine Reihe einsamer Gassen fort, umrundeten einen Platz, auf dem zahlreiche Zelte – für die Bediensteten aus dem Gefolge des Grafen – aufgebaut waren, und kamen schließlich zum Weinhafen. Während sich die übrigen Bewohner von Brügge noch von den nächtlichen Festlichkeiten erholten, waren Händler und Träger bereits vollauf mit der Versorgung für die Vergnügungen des anbrechenden Tages beschäftigt. Etwa zehn Barken lagen am Kai vor Anker, und rund um die Fässer wurde heftig debattiert. Baltus trat zu einem Mann mit roter Mütze, der wild mit seinem Gehstock gestikulierte.
    »Holà, Hafenmeister! Ich bringe Euch hier einen meiner Lehrjungen, der etwas Beschäftigung sucht. Hättet Ihr für die Tage der Hochzeitsvorbereitungen vielleicht Arbeit für ihn?«
    Der Hafenmeister musterte Sam mit erfahrenem Blick.
    »Er ist für diese Lasten nicht gebaut, Euer Lehrling. Er ist so schmächtig, als hätte er die ganze Woche nichts gegessen. Versuch mal, dieses Fass da zu heben . . .«
    Er zeigte auf ein Fässchen, das ein stämmiger Bursche soeben über das Kopfsteinpflaster herbeigerollt hatte. Samuel ging in die Knie, legte beide Arme in gespielter Leichtigkeit um das Fass und wollte es anheben. Er war schnell kuriert: Es war schwer wie ein toter Esel und ließ sich nicht mal einen Zentimeter vom Boden lösen. Die anderen Lastträger, die einen Kreis um sie gebildet hatten, lachten aus vollem Hals.
    »Man könnte meinen, Euer Lehrling schafft es kaum, den Kopf auf seinen Schultern zu halten, mein Freund!«, höhnte der Mann mit der roten Mütze. »Aber wenn er es nicht in den Armen hat, so hat er es vielleicht in den Beinen? Mir fehlt ein kranekind, ein Junge für den Kran. Der Lohn ist zwar geringer, die Arbeit aber dafür eher für ihn geeignet.«
    Samuel musterte die seltsame Bretterkonstruktion, die an der linken Seite des Kais hochragte und die er auf den ersten Blick für ein Gerüst gehalten hatte. Sie sah aus wie ein Huhn ohne Kopf, mit aufgeblähtem Bauch und einem Hals, der nach oben hin immer schmaler zulief. In Wirklichkeit handelte es sich um einen hölzernen Kran, dessen Taue in die Schiffe hinabtauchten, um die Ladung heraufzuholen. Angetrieben wurde er von einer großen Trommel, die von zwei Jungen betätigt wurde, die im Inneren im Kreis liefen.
    »Wie viel gebt Ihr?«, fragte Baltus. »Fünf Denar für den halben Tag, wenn er nicht zu faul ist.«
    Baltus warf Sam einen fragenden Blick zu. Der hatte keine Ahnung, wie viel fünf Denar wert waren, doch um nicht als Feigling dazustehen, nickte er.
    »Abgemacht, für den halben Tag«, schloss Baltus. »Wenn ihm die Arbeit zusagt, wird er heute Nachmittag wiederkommen. Ich denke, Ihr findet den Weg zu unserem Haus, Waagen?«
    Wieder nickte Sam und lauschte aufmerksam den Anweisungen des Hafenmeisters: Die drei Jungen, so erklärte er, mussten nur im Gleichschritt im Inneren der Trommel gehen und darauf achten, dass sie sich weder von der Geschwindigkeit mitreißen ließen, noch beim Abbremsen aus dem Gleichgewicht kamen. Wenn er seine Sache gut machte, wäre er für die ganze Woche eingestellt.
    Samuel wartete, bis der Kran anhielt, und schlüpfte von der Seite in den Zylinder. Seine beiden Kollegen begrüßten ihn mit einem Brummen, und Sam stellte fest, dass sie trotz der Kälte schweißgebadet waren. Auf das Zeichen des Meisters hin fingen die drei im Gleichschritt an zu laufen und trieben das Rad allein mit ihren Füßen an.
    »Gut so, Jungs! Alle zusammen!«, schrie der Mann mit der roten Mütze.
    Anfangs schien es eine leichte Sache zu sein: Samuel musste lediglich seinen Rhythmus dem der beiden anderen kranekinders anpassen, das Laufen funktionierte so gut wie

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