Die steinerne Pforte
bei den anderen. Nach etwa einer Viertelstunde erregte der Mechanismus der Maschine seine Aufmerksamkeit, ein kompliziertes Zusammenspiel von Seilen und Rollen, die über ihren Köpfen mit ohrenbetäubendem Lärm arbeiteten. Sein Schuh geriet zwischen zwei Bretter, er merkte, wie ihm der Boden unter den Füßen davonglitt und dann wurde er hin- und hergeworfen wie ein Bündel Wäsche in der Waschmaschine. Glücklicherweise rief der Hafenmeister in diesem Moment zu einer Pause, weil das Hin-und Hermanövrieren der Barken seine Zeit brauchte. Seine beiden Kollegen schnauften, und Sam rappelte sich mühsam hoch.
»He, du drehst wohl zum ersten Mal, was?«, fragte ihn einer der Jungen, dessen Augenlid leicht herunterhing eine Verletzung, ein Geburtsfehler?
»Stimmt genau«, sagte Sam und massierte sich den Rücken.
»Du solltest besser aufpassen, wenn du nicht willst, dass wir auch deinen Lohn einkassieren.«
»Jap«, stimmte der andere zu, »mit Melchior war das was anderes. Der konnte sich zumindest auf den Beinen halten!«
Der Erste zuckte die Schultern.
»Nach dem, was er auf den Kopf gekriegt hat, wird der bestimmt nicht wiederkommen. Das Loch soll faustgroß sein, und es heißt, man kann ihm ins Gehirn sehen!«
Samuel wurde hellhörig: »Ein Loch im Kopf? Wie ist das passiert?«
»Er hat sich geprügelt, jedenfalls behauptet er das. Ist wohl eher angegriffen worden, von hinten, mit einem Stein.«
»Mit einem Stein«, wiederholte Sam verblüfft.
»Glaub mir, wenn wir das Schwein erwischen ... Er hat nämlich Freunde, unser Melchior, viele Freunde!«
»Ich verstehe!« Sam versuchte, möglichst unbeteiligt zu klingen. »Und ... ist er jetzt im Krankenhaus?«
»Im Krankenhaus? Melchior? Warum nicht gleich bei den Stadtwachen, wenn du schon dabei bist! Nein, wie gesagt, er hat viele Freunde.«
Der mit dem verletzten Auge warf ihm einen feindseligen Blick zu – einen halben Blick.
»Willst du ihm vielleicht auch ins Gehirn gucken?«
»Ah, nein, bestimmt nicht«, wehrte Sam ab. »Ich wollte mich nur unterhalten.«
»Dann spar dir lieber deinen Atem, es gibt wieder eine Ladung zu löschen.«
Der Hafenmeister schnippte mit den Fingern, und die drei kranekinders nahmen ihren absurden, endlosen Marsch im Innern der Trommel wieder auf. Die Hamster von Brügge!
Nach drei oder vier Stunden – seine Zehen und Beine fühlten sich an wie Wackelpudding – konnte Sam dem teuflischen Rad endlich entkommen: Die Arbeit des Vormittags war so gut wie erledigt, es gab nur noch ein Schiff zu entladen, und sämtliche Fässerladungen hatten ihre Abnehmer gefunden. Er ließ seinen beiden Mitstreitern bei der Lohnauszahlung den Vortritt und trat als Letzter vor den Mann mit der roten Mütze. Der verzog das Gesicht.
»Du hast Glück, dass die beiden da ihr Geschäft verstehen, sonst hätte ich dich nicht behalten. Du bist zu langsam und zu tollpatschig! Zur Belohnung habe ich Ihnen einen Denar extra gegeben. Du kriegst natürlich nur einen!«
Seine Hand verschwand in der Hosentasche und holte drei armselige runde Metallstücke hervor. Sam war über sein unglückliches Los viel weniger enttäuscht als über die Tatsache, dass keine der Münzen ein Loch in der Mitte hatte.
»Wartet, Herr! Wenn ich heute Nachmittag wiederkomme, könnte ich dann eine andere Münze bekommen? Eine mit einem Loch zum Beispiel? Ich würde auch mehrere Tage dafür arbeiten.«
Der Hafenmeister sah ihn ungläubig an.
»Eine Münze mit einem Loch? Warum denn das? Du bist wohl nicht von hier, scheint mir. Weder der Sol noch der Denar hat hier in Brügge jemals ein Loch gehabt! Geschweige denn das Pfund! Wenn du fremdes Handelsgeld suchst, solltest du zu den Wechslern gehen. Diese Leute arbeiten mit allen möglichen Münzen, darunter mitunter höchst seltsame Exemplare!«
»Die Wechsler?«
»Ja, die Wechsler, auf dem Platz der Börse! Du willst doch wohl nicht behaupten, dass du nicht weißt, wer die Wechsler sind?«
Er musterte Sam misstrauisch. »Die Wechsler, na klar! Der Platz der Börse! Wie dumm von mir!«
Der Hafenmeister seufzte und wandte sich zu einem der Träger. Sam überlegte kurz, ob er versuchen sollte, die beiden kranekinders einzuholen und sie weiter über besagten Melchior auszufragen – zweifellos der Junge, den er auf dem Friedhof bewusstlos geschlagen hatte —, doch das Risiko wollte er lieber nicht eingehen. Am Ende hätten sie noch Verdacht geschöpft und sich auf ihn gestürzt.
Also machte sich Samuel auf den Weg, indem
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