Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die steinerne Pforte

Die steinerne Pforte

Titel: Die steinerne Pforte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Prevost Andre
Vom Netzwerk:
gegeben, das Tier im Arm zu halten. Dann gab es noch zwei Selbstporträts von Lili, aus zu großer Nähe aufgenommen und schlecht zentriert, was Gesicht und Nase unnatürlich rundlich erscheinen ließ. Sam spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Lili . . .
    Er schaltete das Handy aus – lieber jetzt nicht sentimental werden. Außerdem hatte er von der Eingangstür her ein Geräusch vernommen. Er stand auf und schlich auf Zehenspitzen durchs Atelier, die Kerze m der Hand. Es musste nach Mitternacht sein, eigentlich sollten alle schlafen ... Er trat in den Flur und hielt den Atem an. Nichts Verdächtiges. Er schlich weiter bis zur Eingangstür. Der Riegel war beiseite geschoben. Um jemandem Zugang zu verschaffen oder das Hinausgehen zu ermöglichen? Zu dieser Stunde und bei dem Schnee . . . Samuel drückte vorsichtig die Klinke herunter und warf einen Blick nach draußen. Fußspuren führten vom Haus weg und verloren sich auf der verlassenen Straße.

 
13.
    Die Hamster von Brügge
     
    »Samuel . . . Samuel Waagen!«
    Samuel vernahm im Tiefschlaf, wie aus weiter Ferne jemand seinen Namen rief. Seine Lider waren schwer wie Blei, und nur unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen.
    »Es ist Zeit, mein Junge!«
    Er brauchte einige Sekunden, um im Schein einer Kerze das Gesicht zu erkennen, das sich über sein Bett neigte. Baltus . . . Yser . . . Brügge . . .
    »Auf, auf! Ihr werdet sonst noch die Anwerbung versäumen!«
    Samuel hatte ein pelziges Gefühl im Mund, steife Muskeln, und seine grauen Zellen schienen im Zeitlupentempo zu arbeiten.
    »Die Anwerbung«, wiederholte er mechanisch.
    Endlich schaffte er es, sich hochzuraffen und sich anzuziehen. Der alte Mann erwartete ihn bereits im halbdunklen Speisezimmer. Ein dampfender Topf stand auf dem Tisch, dazu einige Scheiben getrockneter Schinken, Käse und ein Laib Weißbrot. Im Kamin flackerte bereits ein Feuer, und Baltus schenkte, ohne zu fragen, eine schwarze aromatische Flüssigkeit in einen metallenen Becher.
    »Trinkt das, es wird Euch aufwärmen.«
    Samuel nahm einen Schluck. Es schmeckte nach gebrühtem Kaffee – mit einem Nachgeschmack von Zimt. Seltsam, aber nicht unangenehm.
    »Wie geht es Eurem Handgelenk?«
    Baltus schüttelte seine bandagierte Hand.
    »Es schmerzt immer noch sehr; ich hoffe, es ist nicht gebrochen. Ich werde Euch in die Stadt begleiten und auf dem Weg meinen Arzt aufsuchen.«
    »Werdet Ihr weitermalen können?«, fragte Sam, während er etwas Schinken und Käse zwischen zwei Brotscheiben legte.
    »Das werde ich unbedingt! Ich muss das Porträt meiner Tochter fertig stellen, der Wettbewerb ist in zwei Tagen! Ihr habt eine seltsame Art zu essen, Samuel Waagen«, fügte er hinzu, als er sah, wie Sam in sein improvisiertes Sandwich biss.
    »Das ist... das ist eine Angewohnheit, die ich in Malines angenommen habe«, erklärte Sam zwischen zwei Bissen. »Etwas erscheint mir allerdings merkwürdig an der Sache . . . mit den Wegelagerern gestern . . . Worauf genau waren sie eigentlich aus?«
    »Nun, sie wollten mich berauben, nehme ich an. Was sonst sollten Räuber im Sinn haben?« »Nach dem, was ich verstanden habe, suchten die, die mich gestern Nachmittag überfallen haben, etwas ganz Bestimmtes. Eine Münze oder ein Schmuckstück, glaube ich, mit einem Loch in der Mitte.«
    Er war gespannt, wie Baltus reagieren würde, doch der zeigte sich eher amüsiert als interessiert: »Ein Loch in der Mitte? Dann kann es sich um kein besonders wertvolles Stück handeln, wenn der Künstler so an Material und Mühe gespart hat! Außerdem haben sie Euch doch nur die Kleider genommen, nicht wahr? Manchmal kommt es auch vor, dass sie sich ihres Opfers entledigen, wisst Ihr? Deshalb sollten wir uns nicht allzu sehr beklagen, weder Ihr noch ich.«
    Samuel nickte nur. Baltus schien nichts von einer Münze mit Loch zu wissen. Es sei denn, er war ein guter Schauspieler. Der alte Mann mahnte zur Eile. Sam verschlang den Rest seines Sandwichs und beeilte sich, den Mantel mit dem Pelzkragen überzuziehen, den der Maler für seine Lehrlinge bereithielt. Er folgte ihm hinaus auf die verschneite Straße, wo die ersten frühen Sonnenstrahlen nur schwach durch die grauen Wolken drangen. Alles schien kalt und erstarrt, wie die Kulisse eines fantastischen Films. Es sah aus wie die detailgetreue Rekonstruktion eines mittelalterlichen Dorfes: die hohen schmalen Häuser, die schiefen Dächer, die gotischen Stilelemente,

Weitere Kostenlose Bücher