Die steinerne Pforte
er sich grob am alles überragenden Belfried – der zu jeder Viertelstunde schlug – orientierte. Unterwegs fragte er eine alte Dame, die in eine Art Sack vermummt war, nach dem Weg zum Platz der Börse. Mittlerweile war die ganze Stadt auf den Beinen. In den Straßen herrschte dichtes Gedränge aus Menschen, Hunden, Pferden, in dem man nur schubweise vorwärtskam, je nachdem, wie oft die Karren hielten und wie ausgiebig die Lieferanten sich untereinander austauschten. Trotz der Eiseskälte schienen alle bester Laune; die Passanten berichteten begeistert von den Banketten und Turnierkämpfen, an denen sie am Vorabend teilgenommen hatten, und freuten sich auf die Verteilung von Brot und Fleisch, die im Laufe des Tages vorgesehen war. Von Weitem erkannte er die von Palisaden umgebene, mit bunten Fahnen geschmückte Arena, in der die Turniere stattfanden. Leider war dort gerade kein einziger Ritter in voller Rüstung zu sehen . . .
Im Viertel der Wechsler war das Treiben nicht weniger geschäftig. Der rechteckige Platz der Börse war umgeben von imposanten Gebäuden mit vergitterten Fenstern und Zinnen auf den Dächern. Vor jeder Fassade waren Holztische aufgebaut, beschirmt von kleinen Vordächern zum Schutz vor Regen. Zu beiden Seiten der Tische wurde lautstark verhandelt, und Sam brauchte eine Weile, um zu begreifen, worum es ging: Brügge war ein wichtiges Handelszentrum, das Kaufleute aus allen Winkeln Europas anzog, von denen jeder eine andere Währung benutzte. Die Aufgabe der Wechsler bestand darin, die fremden Münzen in Brügger Pfund, Sol und Denar umzurechnen, damit die Geschäfte getätigt werden konnten. Das Problem war dabei, dass man sich zuerst auf den genauen Wert einer Münze einigen musste. Die Händler verlangten immer mehr, die Wechsler boten immer weniger. Daher das zuweilen lautstarke Feilschen, das einem von allen Seiten an die Ohren drang. Einer der Wechsler – er sprach mit einem sehr starken Akzent, bewies ein besonderes schauspielerisches Talent: »Mit diesem Preis, Cortez, treibst du mich in den Ruin! Hast du dabei an meine Kinder gedacht?«
»An deine nicht, aber an andere, Bartolomeo«, gab besagter Cortez zurück. »Du bist der fetteste Bankier hier auf dem Platz. Entweder du gibst mir, was ich verlange, oder ich gehe woanders hin!«
»Ach, Cortez, du reißt mir das Herz aus dem Leib! Aber wirklich nur, weil du mein Freund bist und ich dir einen Gefallen tun möchte! Aber ich bin so gut wie tot! Sieh nur, wie mir das Blut aus den Adern rinnt und wie meine Tränen fließen!«
Er wandte sich an den jungen Mann, der hinter ihm saß, ein Brett mit Jetons auf den Knien.
»Enzo! Rechne bitte: 15 625 geteilt durch 125 minus 5 Kommission plus 3 Rabatt für Cortez.«
Offenbar war Enzo nicht der Schnellste und brauchte eine ganze Weile, um zu seinem Ergebnis zu kommen, weshalb sein Chef ihn herunterputzte: »Ma Enzo! Du bist von allen Dummköpfen der Stadt wirklich der allerdümmste! Du bist eine Strafe für die ganze Familie, mein lieber Neffe!«
Als Enzo schließlich eine Zahl nannte, öffnete der Wechsler eine Schatulle zu seinen Füßen und zählte die genannte Summe nach. Es ging zu schnell, als dass Samuel hätte genauer hineinsehen können; er bekam nur so viel mit, dass die Geldkassette in zahlreiche Fächer unterteilt war, um Münzen in den verschiedensten Größen zu sortieren. Wenn er nur einen Blick hätte hineinwerfen können! Entschlossen machte er einen Schritt auf den Tisch des Wechslers zu, doch es war bereits zu spät: Bartolomeo schob die wertvolle Schatulle wieder unter seine Bank. Sam ging mit gleichgültiger Miene an ihm vorbei und postierte sich ein Stück weiter hinter einem Pfeiler. Eine ganze Weile noch ließ er den Stand des Wechslers nicht aus den Augen. Irgendeine Möglichkeit musste es doch geben, die Kassette zu durchsuchen!
14.
Van Eycks Geheimnis
Erst als die Uhr vom Belfried am Nachmittag drei schlug beschloss Sam, in das Viertel von Sankt Anna zurückzukehren. In der Zwischenzeit hatte er von einer der Verteilungen von Äpfeln und kleinen runden Broten profitiert und bei einem fliegenden Händler ein Stück geräucherte Heringe gekauft, der unvorstellbar salzig geschmeckt hatte Jetzt hatte er einen solchen Durst, dass er den ganzen Kanal hätte austrinken können . . .
Die Magd öffnete ihm mit unfreundlicher Miene.
»Dass Ihr ja keinen Lärm macht, der Herr empfängt gerade den Vogt.«
»Vogt?«
»Ja, der Oberste der Stadtwache, wenn Euch
Weitere Kostenlose Bücher