DIE STERBENDE ERDE
sich zwischen den nachtschwarzen Bäumen durch die Finsternis, die ihr verzerrtes Gehirn noch verstärkte. In Embelyon hatte es keine Nacht gegeben; die vielfarbige Leuchtpracht des Himmels war lediglich ein wenig schwächer geworden. Weiter bahnte sie sich ihren Weg durch den Wald, dessen Düsternis auf ihr Gemüt drückte. Doch glücklicherweise wußte sie nichts von all den schrecklichen Kreaturen, denen sie leicht hätte begegnen können – den Deodanden, den Pelgranen, den schleichenden Irben (Kreaturen, teils Tier, Mensch und Dämon), den Giden, die auf offener Strecke mit einem Satz zwanzig Fuß weit springen können und sich von hinten auf ihre Opfer stürzen, an die sie sich klammern.
Unbelästigt erreichte T'sais den Waldrand, wo der Boden sich allmählich hob, die Bäume spärlicher wuchsen. Eine scheinbar endlose, dunkle Fläche lag vor ihr – das Modavnamoor, ein historischer Ort, der in seiner Zeit viel Blutvergießen gesehen hatte. Golickan Kodek, der Eroberer, hatte die Bewohner zweier großer Städte – G‘Vasan und Bautiku – hierhertreiben und in einem Kreis von etwa drei Meilen Durchmesser umzingeln lassen. Dann befahl er seinen halbmenschlichen, flügelarmigen Reiterscharen, diesen Kreis immer enger zusammenzuziehen, bis die Menschen von Panik erfüllt dichter und dichter zusammenrückten, aufeinandertrampelten, bis sich schließlich ein schreiender, sich windender und krümmender, ein halbes Tausend Fuß hoher Leiberhaufen auftürmte. Die Legende berichtet, daß Golickan Kodek dieses ungewöhnliche Monument zehn Minuten lang nachdenklich betrachtete, ehe er sein feuriges Roß wendete und zurück zum Lande Laidenur ritt, woher er gekommen war.
Die Geister der Toten hatten ihre Kraft verloren, und Modavnamoor wirkte weniger drückend auf T'sais als der erstickende Wald. Büsche hoben sich wie Tintenflecken vom Boden ab, und dem Horizont zu griffen Felsen nach dem letzten schwachen Schein der schon längst nicht mehr sichtbaren Sonne.
T'sais rannte über die offene Fläche, erleichtert, daß der Himmel hier nicht von knorrigen, verkrüppelten Bäumen verborgen war. Wenige Minuten später erreichte sie eine ururalte Straße, deren Steinplatten von Rissen durchzogen waren. In dem Straßengraben zu beiden Seiten wuchsen leutende, sternförmige Blumen. Ein Wind erhob sich, trug den aus dem Moor steigenden klammen Nebel zu ihr. Müde schleppte sie sich auf dieser Straße dahin. Wo sollte sie hier Unterschlupf finden? Ihr fröstelte, als der Wind jetzt auf sie einpeitschte und ihr Umhang sich blähte.
Kaum hörte sie die schleichenden Schritte und sah undeutlich ein paar Gestalten vor sich, als sie auch schon den umklammernden Griff spürte. Sie versuchte nach ihrem Degen zu fassen, doch ihre Arme waren hilflos an die Seiten gepreßt.
Jemand zündete eine Fackel an, um die Beute zu begutachten. T'sais sah drei bärtige, von Narben verunstaltete Moorräuber. Sie trugen graue Fetzen, die vor Schmutz starrten und pestilenzialisch stanken.
»Das ist ja eine schöne Maid!« rief einer mit lüsternem Blick.
»Ich schau' nach, ob sie Silber bei sich hat«, erklärte ein anderer und befummelte T'sais in schmutziger Absicht. Er fand den Beutel mit Juwelen und leerte ihn auf seine Hand, daß die Edelsteine in hundert Farben funkelten. »Seht!« rief er überrascht. »Die Schätze eines Königs!«
»Oder eines Zauberers!« gab der dritte mit belegter Stimme zu bedenken. In unbestimmter, plötzlicher Furcht lockerten sie ihren Griff. Trotzdem konnte sie immer noch nicht an ihren Degen gelangen.
»Wer seid Ihr, Frau der Nacht?« erkundigte sich einer mit unwillkürlichem Respekt. »Gewiß eine Hexe, sonst würdet Ihr nicht mit solchen Schätzen allein durch das Moor wandern.«
T'sais fehlte sowohl das Talent als auch die Erfahrung, eine Lüge zu erfinden.
»Ich bin doch keine Hexe! Laßt mich los, ihr stinkenden Bestien!«
»Keine Hexe? Was seid Ihr dann für eine Frau? Woher kommt Ihr?«
»Ich bin T'sais aus Embelyon«, rief sie erbost. »Pandelume erschuf mich. Ich kam zur Erde, um Liebe und Schönheit zu finden. Jetzt nehmt eure Hände von mir, damit ich meinen Weg fortsetzen kann!«
Der erste Räuber gluckste. »Hoho! Sie sucht Liebe und Schönheit! Du hast Glück, meine Süße. Liebe findest du bei uns, wenn wir auch nicht gerade als Schönheiten zu bezeichnen sind – Tagman mit seinen Pusteln und Pockennarben, und Lasard zahn- und ohrlos. Aber Liebe können wir dir bieten, nicht wahr,
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