DIE STERBENDE ERDE
drehte den Kopf, lauschte. Es drohte Gefahr. Die Luft war still, von unheimlicher Stille. Seine Augen konnten die Dunkelheit nicht weiter als zehn Fuß durchdringen. Irgendwo in der Nähe lauerte der Tod – ein zermalmender, brüllender Tod, der plötzlich zuschlagen würde.
Kalter Schweiß stand ihm auf Stirn und Rücken. Er wagte es kaum, einen Muskel zu rühren, aber er zwang sich abzusitzen.
Fast starr vor Angst glitt er vom Pferd, holte das Dehnbare Ei hervor und warf es über sich und den Schimmel. Ah… Guyal stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. In Sicherheit!
Schwachrotes Licht fiel schräg aus dem Osten durch die Zweige. Guyals Atem dampfte in der kalten Luft, als er aus dem Ei heraustrat. Nach einer Handvoll Dörrobst für sich und einem Sack Hafer für den Schimmel schwang er sich auf den Pferderücken und machte sich wieder auf den Weg zu den Bergen.
Der Wald blieb zurück. Guyal kam zu hügeligem Terrain. Er studierte die vor ihm liegende Bergkette. Von rosigem Schein übertüncht erstreckten sich die grauen, hell- und dunkelgrünen Gipfel westwärts bis zum Melantein und ostwärts bis zum Land der Fallenden Wand. Wo befand sich der Omonapaß?
Vergebens suchte Guyal von Sfere den Einschnitt in den Bergen zu finden, der vom Dorf der in Felle gehüllten Mörder so gut zu sehen gewesen war.
Er runzelte die Stirn und betrachtete weiter die Höhen vor ihm. Verwittert durch den Regen der Äonen waren die Hänge leicht erklimmbar, und die einst so schroffen Gipfel sahen nun wie von Fäulnis zerfressene Zahnstümpfe aus.
Guyal lenkte sein Pferd hügelaufwärts zu den Bergen von Per Aquila.
Guyal von Sfere hatte sich in dem Land der peitschenden Winde und nackten Felsen verirrt. Als die Nacht sich näherte, kauerte er halb erfroren Sattel und gab dem Pferd freien Zügel.
Irgendwo mußte der alte Weg sein, der durch den Omonapaß zu den nördlichen Tundren führte. Aber jetzt, unter dem tiefhängenden Lavendelhimmel, waren Norden, Osten, Süden und Westen völlig gleich. Guyal hielt den Schimmel an, erhob sich in den Steigbügeln und blickte sich um. Die Gipfel streckten sich in den Dunst der Wolken, der Boden war kahl, wenn man von vereinzelten dürren Sträuchern absah. Er ließ sich wieder müde in den Sattel fallen, und das Pferd trottete weiter.
Den Kopf geduckt, um das Gesicht vor dem Wind zu schützen, ritt Guyal dahin, und die Berge zeichneten sich in der Dämmerung wie das Skelett eines versteinerten Gottes ab.
Der Schimmel blieb stehen. Guyal stellte fest, daß sie sich am Rand eines weiten Tals befanden. Der Wind hatte sich gelegt, die Luft war still. Guyal beugte sich vor. In der Tiefe wuchs eine dunkle, leblose Stadt aus dem Talboden.
Nebelschleier wanden sich durch die Straßen, und das letzte Glühen des Abendrots färbte die grauen Schieferdächer.
Das Pferd schnaubte und scharrte auf dem felsigen Grund.
»Eine gespenstische Stadt«, murmelte Guyal. »Ohne Lichter, ohne jeden Laut, ohne den Geruch nach Rauch… Zweifellos verlassene Ruinen alter Zeit…«
Er kämpfte mit sich, ob er zu der Stadt hinuntersteigen sollte.
Sie war ihm unheimlich. Andererseits aber war sie sicherlich einmal durch eine Straße mit den Tundren verbunden gewesen.
Das gab den Ausschlag. Vorsichtigen Schritts tastete das Pferd sich in die Tiefe.
Sie betraten die Stadt, und die Hufe hallten laut auf dem Kopfsteinpflaster. Die Häuser waren aus mit dunklem Mörtel zusammengehaltenen Steinen gebaut und in ungewöhnlich gutem Zustand. Ein paar nur wiesen Risse auf oder waren teilweise zerfallen, den meisten jedoch hatte der Zahn der Zeit kaum etwas anhaben können… Guyal roch Rauch. Lebten doch noch Menschen hier? Er würde sich leiser, vorsichtiger bewegen müssen.
Vor einem größeren Haus, einer Herberge anscheinend, blühten Blumen in Fensterkästen. Guyal hieß sein Pferd anhalten. Böse Menschen machten sich nichts aus Blumen.
»Hallo!« rief er einmal – zweimal.
Keine Tür schwang auf, kein Fenster öffnete sich. Guyal ritt weiter.
Die Straße wurde breiter und führte zu einem großen, fast palastähnlichen Gebäude, aus dem ein Lichtschein fiel. Das Haus hatte eine hohe Fassade mit vier Fenstern und Fensterläden aus feinster Bronzefiligranarbeit und davor jeweils einen kleinen Balkon. Die Marmorbrüstung der Terrasse glänzte in kremigem Weiß, und dahinter war der Eingang, eine wuchtige Flügeltür aus massivem Holz, die einen Spalt breit offen stand, aus dem das Licht schien und
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