Die sterblich Verliebten
mitten auf der Straße, in einer Blutlache, Blickfang der Passanten und Autofahrer, bewusstlos, kraftlos. Bestimmt hatte sich auch seine Frau über das Bild entsetzt, sofern sie es gesehen hatte: Vermutlich hatte sie weder Zeit noch Lust gehabt, am nächsten Tag die Zeitung zu lesen, das lag auf der Hand. Während man weint, Totenwache hält, begräbt und nicht begreift und auch noch Kindern Erklärungen geben muss, ist man für nichts anderes mehr zu gebrauchen, alles Übrige existiert nicht. Aber vielleicht hatte sie es später gesehen, hatte eine Woche danach die gleiche Neugier wie ich empfunden und war ins Internet gegangen, um zu erfahren, was andere damals gewusst hatten, nicht nur die Nahestehenden, sondern Unbekannte wie ich. Welche Wirkung es wohl auf sie gehabt hatte. Der weitere Freundeskreis hatte gewiss aus der Presse davon erfahren, durch die Meldung im Madrider Lokalteil oder durch eine Todesanzeige, in irgendeinem Blatt musste doch eine erschienen sein oder mehrere, wie es die Regel ist, wenn ein vermögender Mensch stirbt. Dieses Foto, vor allem dieses Foto – auch die Art des Todes, so gemein, so absurd, wie soll ich es nennen, mit diesem Anstrich von Erbärmlichkeit – hatte es Beatriz jedenfalls gestattet, von ihm als dem »armen Mann« zu reden. Niemandem wäre es eingefallen, ihn zu Lebzeiten so zu nennen, nicht einmal eine Minute bevor er dem Wagen entstieg, in einer friedlichen, hübschen Gegend, neben dem kleinen Park der Hochschule für Industrieingenieure, dicht belaubte Bäume stehen dort und ein Kiosk mit Ausschank, mit Tischen und Stühlen, auf denen ich mehr als einmal mit meinen kleinen Neffen saß. Nicht einmal eine Sekunde bevor Vázquez Canella das Butterflymesser aufschnappen ließ, man muss recht geübt sein, um seine beiden Griffhälften zu öffnen, mir scheint, sie werden nicht überall verkauft, ja sind eigentlich sogar verboten. Jetzt dagegen war er auf ewig ein solcher, wie man es auch drehte und wendete: armer, glückloser Miguel Deverne. Armer Mann.
»Ja, es war sein Geburtstag, ist das zu fassen? Die Welt empfängt und entlässt die Menschen allzu willkürlich, als dass jemand am selben Datum geboren wird und stirbt, mit fünfzig Jahren Abstand, genau fünfzig. Das hat keinen Sinn, gerade weil einer darin zu liegen scheint. Es hätte anders kommen, hätte so einfach nicht passieren können. Es hätte jeder andere Tag sein können oder gar keiner. Der war nicht vorgesehen. Niemals. Der nicht.«
Mehrere Monate vergingen, bis ich sie, Luisa Alday, wiedersah, und wohl noch einer, bis ich ihren Namen, diesen Namen erfuhr und sie mir diese Worte sagte und viele mehr. Ich fragte mich damals, ob sie von nichts anderem mehr als dem Vorfall sprach, mit jedem, der bereit war, sie anzuhören, oder ob sie sich bei mir leichter aussprechen konnte, bei einem ihr unbekannten Menschen, der das Gehörte keinem aus ihrem Kreis erzählen würde und mit dem sie jederzeit ohne Erklärung oder Folgen den Kontakt, eben aufgenommen, wieder abbrechen konnte, der sich aber zugleich voll Mitgefühl, loyal und neugierig zeigte und dessen Gesicht ihr zugleich neu und vage vertraut war, eine Brücke zu Zeiten ohne dunkle Schleier, auch wenn ich Morgen für Morgen überzeugt gewesen war, dass sie mich kaum bemerkte, weniger noch als ihr Mann.
Luisa tauchte eines Tages, der Sommer ging zu Ende und der September hatte schon begonnen, zur üblichen Zeit in Begleitung zweier Freundinnen oder Kolleginnen wieder auf, man konnte noch draußen sitzen, und ich sah von meinem Tisch aus, wie sie ankam und sich setzte oder eher auf den Stuhl fallen ließ, eine ihrer Freundinnen griff mit mechanischer Fürsorge nach ihrem Unterarm, als fürchtete sie um ihr Gleichgewicht oder hielte ihre Schwäche schon für ausgemacht. Mager und mitgenommen sah sie aus, von dieser tiefen, durchdringenden Blässe, die alle Gesichtszüge verschwimmen lässt, als hätte nicht nur die Haut Farbe und Glanz verloren, sondern auch das Haar, die Brauen, die Wimpern, die Augen, Zähne und Lippen, alles mattiert und verwischt. Hier schien sie nur auf Abruf zu sein, ich meine, hier im Leben. Sie sprach nicht mehr voll Lebendigkeit, wie früher mit ihrem Mann, sondern mit aufgesetzter Natürlichkeit, die Zwang und Unlust verriet. Womöglich stand sie unter Medikamenten. Sie hatten sich in meine Nähe gesetzt, nur ein leerer Tisch war zwischen uns, so dass ich Gesprächsfetzen hören konnte, mehr von den Freundinnen als von ihr, deren
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