Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
Vom Netzwerk:
weiß ich nicht, worauf sie wartet, wie sie die Stunden verbringt, die Tage, Wochen, ja inzwischen Monate, zu welchem Zweck sie die Zeit vorantreibt oder ihr entflieht, sich ihr entzieht, auf welche Weise sie sie jetzt, in diesem Augenblick, in Schach hält. Sie weiß nicht, dass ich sie gleich ansprechen werde wie damals die Kellner, als ich sie das letzte Mal in diesem Café – in einem anderen nie – gesehen habe. Sie weiß nicht, dass ich ihr mit meinen konventionellen Worten helfen werde, zwei Minuten totzuschlagen, vielleicht auch drei, bestenfalls vier, falls sie mit etwas mehr als ›danke‹ antwortet. Noch viele Hundert bleiben, bis der Schlaf ihr beispringt und ihr das Bewusstsein trübt, das mitzählt, immer mitzählt: eins, zwei, drei und vier; fünf, sechs und sieben und acht, unaufhaltsam, ohne Pause, bis es kein Bewusstsein mehr gibt.
    »Verzeihen Sie die Belästigung«, sagte ich ihr im Stehen; sie erhob sich nicht sofort. »Ich heiße María Dolz, Sie kennen mich nicht. Aber jahrelang habe ich zur gleichen Zeit hier gefrühstückt wie Sie und Ihr Mann. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass es mir ungeheuer leidtut, wie es ihm ergangen ist und wie es nun bestimmt Ihnen ergeht. Ich habe erst spät aus der Zeitung davon erfahren, nachdem ich Sie beide schon viele Morgen lang vermisst hatte. Ich kannte Sie nur vom Sehen, aber mir fiel auf, wie gut Sie sich verstanden haben, Sie waren mir beide ungemein sympathisch. Ich habe es wirklich zutiefst bedauert.«
    Ich merkte, dass ich sie in meinem vorletzten Satz ebenfalls getötet, alle beide in die Vergangenheit gesetzt hatte, nicht nur den Verstorbenen. Ich suchte nach einem Weg, es wiedergutzumachen, aber mir fiel keiner ein, der nicht alles unnötig verkompliziert hätte oder allzu plump gewesen wäre. Ich nahm an, dass sie mich richtig verstanden hatte: Als Paar waren mir die beiden so angenehm gewesen, und als solches gab es sie nicht mehr. Dann kam mir in den Sinn, dass ich vielleicht an das gerührt hatte, was sie verdrängen wollte oder eher Augenblick für Augenblick in eine Art Limbus verbannte, denn bestimmt konnte sie es weder vergessen noch leugnen: dass sie in keinem Fall mehr zwei waren, dass sie selbst mit niemandem mehr ein Paar bildete. Ich wollte gerade hinzufügen: »Das war alles, ich halte Sie nicht länger auf, ich wollte es Ihnen nur sagen«, mich umdrehen und fortgehen, als Luisa Alday lächelnd aufstand – es war ein offenes Lächeln, das sie nicht unterdrücken konnte, an dieser Frau war nichts Falsches, nichts Schlechtes, womöglich war sie sogar die Arglosigkeit in Person –, mir liebevoll die Hand auf die Schulter legte und sagte:
    »Aber natürlich, auch wir kennen dich vom Sehen.« Sie duzte mich, ohne zu zögern, trotz meiner Anrede, wir waren ungefähr im selben Alter, sie vielleicht zwei Jahre älter; sie hatte im Plural und Indikativ Präsens gesprochen, als hätte sie sich noch nicht an ein Leben in der Einzahl gewöhnt oder als spräche auch sie schon aus dem Jenseits, ebenso tot wie ihr Mann und somit in derselben Dimension, derselben Region, als hätte sie sich noch nicht von ihm getrennt und sähe keinerlei Grund, auf dieses »wir« zu verzichten, das sie bestimmt fast ein Jahrzehnt lang definiert hatte und von dem sie sich nicht in erbärmlichen drei Monaten trennen wollte. Anschließend wechselte sie doch ins Präteritum, vielleicht verlangte es das Verb. »Wir nannten dich die junge Besonnene. Du siehst, sogar einen Namen hattest du bei uns. Vielen Dank für deine Worte, willst du dich nicht setzen?« Sie zeigte auf einen der Stühle, auf denen ihre Kinder gesessen hatten, die andere Hand noch immer auf meiner Schulter, die ihr nun als Stütze oder Halt diente, wie mir schien. Ich hätte nur ein bisschen näher rücken müssen, und sie hätte sich zwanglos an mich geklammert, da war ich mir sicher. Sie sah anfällig aus wie ein Gespenst, das erst seit kurzem eines ist und noch schwankt, sich noch nicht davon überzeugt hat.
    Ich schaute auf die Uhr, es war schon spät. Ich wollte sie nach meinem Spitznamen fragen, war überrascht, fast geschmeichelt. Sie hatten mich bemerkt, von mir gesprochen, mir eine Identität gegeben. Ich lächelte unbewusst, beide lächelten wir mit einer schüchternen Freude, die zweier Menschen, die sich unter tieftraurigen Umständen wiedererkennen.
    »Die junge Besonnene?«, fragte ich.
    »Ja, so kommst du uns vor.« Wieder kehrte sie zum Indikativ Präsens zurück, als wäre Deverne

Weitere Kostenlose Bücher