Die sterblich Verliebten
ihr bis zum Wiedersehen einen spürbaren Trost mitgeben). Der Wagen sollte sie zweifellos zur Schule bringen. Ich schaute, wer ihn steuerte, konnte nicht anders, und mein Puls beschleunigte sich, denn auch wenn ich nichts von Autos verstehe und alle für mich gleich aussehen, erkannte ich dieses auf den ersten Blick: Es war dasselbe, in das Deverne immer gestiegen war, wenn er zur Arbeit fuhr, während seine Frau noch kurz im Café zurückblieb, allein oder mit einer Freundin. Bestimmt war es auch dasselbe, das er persönlich gelenkt, neben der Hochschule für Industrieingenieure geparkt und in einem so unglücklichen Moment verlassen hatte, an seinem Geburtstag. Ein Mann saß am Lenkrad, vermutlich der besagte Chauffeur, dachte ich, mit dem er sich abgewechselt hatte und der ihn auch an dem Unglückstag hätte vertreten und für ihn sterben können, den man womöglich in Wirklichkeit hatte töten wollen oder der das eigentliche Ziel des Tötens gewesen und folglich knapp entronnen war – aus Zufall, wer weiß, vielleicht hatte er an dem Tag zum Arzt gehen müssen. Wenn er es war, trug er keine Uniform. Ich sah ihn nicht richtig, die Autos in der ersten Reihe verdeckten ihn zur Hälfte, doch er schien mir ein gutaussehender Mann zu sein. Er sah Miguel Desvern nicht etwa ähnlich, und doch hatten die beiden etwas Gemeinsames, waren zumindest nicht von gegensätzlichem Typ, eine Verwechslung war erklärlich, vor allem bei einem geistig Verwirrten. Luisa winkte ihm vom Tisch aus zum Abschied zu, oder vielleicht war es hallo und auf Wiedersehen in einem, vom Eintreffen bis zum Abfahren. Ja, sie hob und senkte etwas sinnlos drei-, viermal die Hand vor dem parkenden Wagen. Wiederholte die Geste mit leeren Augen, die vielleicht nur das Gespenst sahen. Oder der Abschied galt den Kindern. Ich konnte nicht erkennen, ob der Fahrer zurückwinkte.
Da beschloss ich, sie anzusprechen. Die Kinder waren bereits im ehemaligen Wagen des Vaters verschwunden, sie war allein geblieben, ohne Kollegin, ohne eine der anderen Mütter, ohne Freundin. Sie rührte mit dem langen, klebrigen Löffel in dem Eis, das der Sohn im Becher gelassen hatte, als wollte sie es umgehend verflüssigen und gedankenlos das Schicksal beschleunigen, das ihm ohnehin bevorstand. Wie viele endlose Augenblicke wird sie erleben, in denen sie nicht weiß, wie sie die Zeit vorantreiben soll, dachte ich, sofern es darum überhaupt geht, was ich nicht glaube. Man wartet, dass die Zeit verstreicht, ob der andere – der Mann, der Geliebte – nun vorübergehend fort ist oder auf ewig, ja es muss gar nicht endgültig sein, sosehr es auch den Anschein hat und der Instinkt es uns hartnäckig einflüstert, worauf wir entgegnen: ›Still, still, weg mit dir, du Stimme, noch will ich dich nicht hören, noch fehlt mir die Kraft, noch bin ich nicht bereit.‹ Wer verlassen wurde, kann von einer Rückkehr träumen, davon, dass dem Verlassenden eines Tages ein Licht aufgeht und er zu unserem Kopfkissen zurückkehrt, selbst wenn wir wissen, dass er uns längst ersetzt, sich in eine andere Frau, eine andere Geschichte vertieft hat und sich nur an uns erinnert, wenn es mit der neuen nicht gut läuft oder wenn wir hartnäckig bleiben, gegen seinen Willen bei ihm auftauchen und versuchen, ihn zu beunruhigen, zu erweichen, sein Mitleid zu erwecken oder Rache zu üben, wenn wir ihn spüren lassen, dass er uns niemals ganz loswerden wird, dass wir keine schrumpfende Erinnerung sein wollen, sondern ein unverrückbarer Schatten, der ihn immer umschleichen und belauern wird, und ihm das Leben zur Hölle machen, ihn am Ende dazu bringen, uns zu hassen. Ein Toter hingegen taugt nicht für solche Phantasien, es sei denn, wir verlören den Verstand, und manche verlieren ihn bewusst, wenn auch nur vorübergehend, sie nehmen das in Kauf, solange sie sich noch davon überzeugen müssen, dass das Geschehene geschehen ist, das Unvorstellbare, ja Unmögliche, das keinen Platz in der Wahrscheinlichkeitsrechnung hatte, mit deren Hilfe wir tagtäglich aufstehen, ohne dass eine bleierne, unheilvolle Wolke uns dazu drängt, die Augen von neuem zu schließen und zu denken: ›Ach was, wir sind ohnehin alle verdammt. Es lohnt die Mühe nicht. Was wir auch tun, wir warten ja doch nur; wie Tote auf Urlaub, wie jemand einmal gesagt hat.‹ Doch mir will nicht in den Kopf, dass Luisa derart den Verstand verloren hat, es ist nur eine Intuition, ich kenne sie nicht. Und wenn sie ihn nicht verloren hat, dann
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