Die sterblich Verliebten
nächsten Tag fragt er, ob ich es ihm gesagt habe, was er geantwortet und ob er sich gefreut hat, dass er schon Fußball spielt. Ich sage dann, noch hätte ich nicht mit ihm gesprochen, man müsse warten, es sei nicht einfach, Verbindung mit ihm zu bekommen, lasse ein paar Tage vergehen, und wenn er sich erinnert und nachfragt, erfinde ich etwas. Am besten, ich lasse immer mehr Zeit dazwischen verstreichen, bis er es sich abgewöhnt und vergisst, später wird er sich ohnehin kaum an ihn erinnern. Im Grunde wird er für eigene Erinnerung halten, was seine Schwester und ich ihm erzählen. Carolina macht mir mehr Sorgen. Sie spricht kaum von ihm, ist ernster, schweigsamer geworden, und wenn ich ihrem Bruder etwa erzähle, Vater habe über seine Einfälle gelacht oder ich solle ihm ausrichten, dass er nur den Ball, nicht die anderen Kinder treten darf, dann schaut sie mich mit einer Art Mitleid an, das ganz dem meinen ihnen gegenüber gleicht, als täte ich ihr wegen meiner Lügen leid, und es gibt Momente, in denen jeder mit dem anderen leidet, sie mit mir und ich mit ihnen, zumindest das Mädchen. Sie sehen mich traurig, sehen mich, wie sie mich nie zuvor gesehen haben, und glaub mir, ich bemühe mich, nicht zu weinen, mir nicht allzu viel anmerken zu lassen, wenn ich mit ihnen zusammen bin. Aber sie merken es doch, da bin ich mir sicher. Nur ein einziges Mal habe ich in ihrer Gegenwart geweint.« Ich musste daran denken, was mir bei dem Mädchen aufgefallen war, als ich die drei am Morgen auf der Caféterrasse beobachtet hatte: Wie sie auf die Mutter geachtet, sie fast behütet hatte, soweit möglich; das flüchtige Streicheln der Wange beim Abschied. »Außerdem haben sie Angst um mich«, fügte Luisa hinzu und schenkte sich seufzend noch ein Glas ein. Seit einer Weile schon hatte sie nicht mehr davon getrunken, sich zurückgehalten, vielleicht gehörte sie zu den Menschen, die rechtzeitig innehalten können oder nur wohldosiert über die Stränge schlagen, die am Gefahrenrand entlangbalancieren, aber nie hinabfallen, nicht einmal, wenn sie glauben, sie hätten nichts mehr zu verlieren, und ihnen alles egal ist. Es war offensichtlich, dass sie verzweifelt war, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie sich völlig aufgab, in keiner Weise: dass sie sich etwa sinnlos betrank oder die Kinder vernachlässigte, Drogen nahm, nicht mehr zur Arbeit ging oder sich (später dann) einem Mann nach dem andern hingab, um den zu vergessen, der allein für sie zählte; als besäße sie ein letztes Register der Vernunft, des Pflichtgefühls, der Gleichmut, der Selbsterhaltung oder des Pragmatismus, ich konnte es nicht genau benennen. Und da war es mir auf einmal klar: Sie wird darüber hinwegkommen, dachte ich, wird sich früher aufrappeln, als sie denkt, irreal wird es ihr erscheinen, was sie in diesen Monaten durchgemacht hat, ja sie wird sogar wieder heiraten, vielleicht einen Mann, der ebenso perfekt ist wie Desvern oder mit dem sie zumindest ein ähnliches Paar bilden wird, das heißt, so gut wie perfekt. »Sie haben entdeckt, dass die Menschen sterben, dass auch die sterben, die sie allen voran für unzerstörbar gehalten hatten, die Eltern. Das ist nicht mehr bloß ein Albtraum, Carolina hatte schon den einen oder anderen, sie ist in dem Alter: Sie hatte nachts einmal geträumt, dass ich sterbe oder dass ihr Vater stirbt, bevor das alles passiert ist. Sie hatte uns mitten in der Nacht zu sich gerufen, ganz verängstigt, und wir haben ihr eingeredet, dass so etwas nicht möglich sei. Nun hat sie gesehen, dass wir uns getäuscht oder sie sogar belogen haben, dass es einen Grund zum Fürchten gab, dass ihre Träume sich bewahrheitet haben. Sie hat es mir nie direkt vorgeworfen, aber am Tag nach Miguels Begräbnis, als daran nicht mehr zu rütteln war und uns nur noch blieb, ohne ihn weiterzuleben, da hat sie mir zweimal gesagt, als fühlte sie sich mehr als bestätigt: ›Siehst du? Siehst du?‹ Ich verstand nicht, fragte: ›Was soll ich sehen, Liebes?‹ Ich war zu betäubt, um zu begreifen. Da verschloss sie sich, und so ist sie seitdem: ›Nichts weiter. Dass Papa nicht mehr bei uns ist, siehst du’s nicht?‹, hat sie geantwortet. Das war zu viel für mich, ich setzte mich auf den Bettrand, wir waren in meinem Zimmer. ›Natürlich sehe ich das, Schatz‹, sagte ich, und die Tränen sprangen mir aus den Augen. Sie hatte mich noch nie weinen sehen, ich tat ihr leid und tue es seitdem. Sie kam zu mir und
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