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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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trocknete sie mit ihrem Kleid. Nicolás dagegen hat es zu früh erfahren, hatte nicht einmal davon geträumt oder Angst davor gehabt, hat noch keinen Begriff vom Tod, ich glaube, er hat immer noch nicht richtig begriffen, worin er besteht, obwohl ihm allmählich bewusst wird, dass dann die Menschen nicht mehr da sind, man sie nie wiedersieht. Und wenn ihnen der Vater gestorben ist, von heut auf morgen verschwunden, ja schlimmer noch, wenn man ihnen den Vater kurzerhand umgebracht hat und es ihn ganz plötzlich nicht mehr gibt, wenn er sich als so schwach erwiesen hat, dass er dem ersten Ansturm eines armen Teufels erliegt, wie sollen sie da nicht denken, dass es auch mir, die sie als weniger stark empfinden, jeden Tag so ergehen kann? Ja, sie haben Angst um mich, haben Angst, dass mir etwas Schlimmes zustoßen könnte und sie dann völlig allein sind, sie schauen mich voll Sorge an, als wäre ich, nicht sie, gefährdet und hilflos. Beim Jungen ist es rein instinktiv, beim Mädchen schon sehr bewusst. Ich merke, wie sie auf der Straße alles um mich herum beobachtet, wie sie bei jedem unbekannten Menschen unruhig wird, das heißt, bei jedem unbekannten Mann. Es beruhigt sie, wenn ich in Begleitung bin, von Freunden oder Frauen. Jetzt ist sie schon eine Weile lang beruhigt, weil ich zu Hause und mit dir zusammen bin, du siehst ja, sie stört nicht, kommt nicht unter irgendeinem Vorwand herein, um aufzupassen. Obwohl sie dich gerade erst kennengelernt hat, flößt du ihr Vertrauen ein, du bist eine Frau, und sie sieht keine Gefahr in dir. Im Gegenteil, sie sieht einen Schild in dir, einen Schutz. Es macht mir ein wenig Sorge, dass sie Angst vor den Männern bekommt, sich vor ihnen in Acht nimmt, nervös bei ihnen wird, bei denen, die sie nicht kennt. Ich hoffe, das geht vorüber, man kann nicht durchs Leben gehen und die eine Hälfte der Menschheit fürchten.«
    »Wissen sie, wie ihr Vater umgekommen ist, die genauen Umstände? Ich meine«, hier zögerte ich, wusste nicht, ob ich es erwähnen sollte, »das Messer.«
    »Nein, ins Detail bin ich nie gegangen, habe nur gesagt, dass dieser Mensch ihn angegriffen hat, die Art und Weise habe ich nicht geschildert. Aber Carolina wird es wissen, ich bin mir sicher, dass sie einen der Artikel gelesen hat, und die Schulfreunde haben sie bestimmt aufgeregt darauf angesprochen. Die Vorstellung muss so schrecklich für sie sein, dass sie mir niemals Fragen gestellt, es nie erwähnt hat. Als hätten wir beide ein stillschweigendes Abkommen, nicht darüber zu reden, nicht daran zu rühren, diesen Umstand von Miguels Tod (den entscheidenden Umstand, der ihn herbeigeführt hat) auszublenden, ein Vorfall in einem leeren, keimfreien Raum. Eigentlich tun das alle mit ihren Toten. Man versucht, das Wie zu vergessen, hält sich an das Bild des Lebenden, wenn’s hochkommt an das des Toten, vermeidet aber, an die Grenze dazwischen zu denken, an den Übergang, den Todeskampf, die Ursache. Jemand ist erst am Leben, dann tot, dazwischen ist nichts, als fiele man ganz unvermittelt und grundlos von einem Zustand in den anderen. Aber ich kann es noch nicht vermeiden, und das hindert mich daran, zu leben und langsam darüber hinwegzukommen, vorausgesetzt, man kommt über so etwas hinweg.« Das wirst du, das wirst du, dachte ich wieder, schneller als du glaubst. Und ich wünsche es dir, arme Luisa, von ganzem Herzen. »In Gegenwart von Carolina gelingt es mir, denn es ist gut für sie, und das ist Antrieb genug. Doch wenn ich allein bin, geht es nicht, vor allem um diese Tageszeit, wenn es nicht mehr Tag ist und noch nicht Nacht. Dann denke ich an das eindringende Messer und daran, was Miguel empfunden haben muss, ob er Zeit hatte, an etwas zu denken, ob er gedacht hat, dass er stirbt. Dann werde ich krank vor Verzweiflung. Und das ist nicht nur so eine Redensart: Es macht mich buchstäblich krank. Der Schmerz fährt mir durch den ganzen Leib.«

Es klingelte, und wer es auch sein mochte, ich wusste, das Gespräch und mein Besuch waren damit zu Ende. Luisa hatte sich mit keiner Silbe nach mir erkundigt, war nicht einmal auf die Fragen zurückgekommen, die sie mir am Morgen vor dem Café gestellt hatte, nach meinem Beruf und nach dem Namen, auf den ich Deverne und sie damals getauft hatte, während ich sie beim Frühstück beobachtete. Sie war noch nicht bereit für Neugier, für das Interesse an jemand anderem, für einen Blick ins fremde Leben, das ihre nahm sie voll und ganz in Anspruch, zehrte all

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