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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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langen Zeit war, da niemand ahnte, dass für ihn so plötzlich oder bleiern der Vorhang fallen würde. Alles erscheint im Licht dieses Schlussakts, oder vielmehr leuchtet und blendet dieser Schlussakt so sehr, dass man zum Vorherigen unmöglich zurückfinden, beim Rückblick, beim Nachsinnen unmöglich lächeln kann; man könnte sagen, wer so stirbt, stirbt tiefer, gründlicher oder vielleicht doppelt, in der Wirklichkeit und im Andenken der anderen, denn dieses Andenken wird für immer überstrahlt vom Schlussmoment, blödsinnig, bitter, verzerrend, ja vergiftet.
    Es konnte gleichfalls sein, dass Luisa sich noch in der Phase des äußersten Egoismus befand, also nur Augen für ihr eigenes Unglück hatte, kaum für das von Desvern, so viel Gedanken sie sich auch über seine letzten Augenblicke machte, als er begriffen haben musste, dass es der Abschied war. Die Welt gehört so sehr den Lebenden und in Wahrheit so wenig den Toten – auch wenn sie alle in der Erde bleiben und zweifellos weit in der Überzahl sind –, dass Erstere oft denken, sie hätten den Tod eines geliebten Wesens in größerem Maße erlitten als der Verstorbene, der ihn tatsächlich erlitt. Dabei ist er es, der sich, fast immer unfreiwillig, verabschieden musste, der alles Künftige verpasst hat (der nicht mehr seine Kinder wachsen und sich entwickeln sieht, in Devernes Fall), der jeden Wissensdrang, jede Neugier aufgeben musste, der Pläne unvollendet, Worte unausgesprochen ließ, von denen er geglaubt hatte, dass ihre Zeit noch kommen würde, der nichts mehr erleben kann; falls er schöpferisch tätig war, ist er es, der ein Buch, einen Film, ein Bild, eine Komposition nicht hat vollenden oder das Erste, Zweite und Vierte nicht hat zu Ende lesen, sehen oder hören können, falls er nur Rezipient war. Man muss bloß einen Blick in das Zimmer des Verstorbenen werfen und begreift, was für immer unterbrochen und sinnentleert zurückbleibt, was in einem Augenblick unbrauchbar und zwecklos wurde: ja, der Roman mit Lesezeichen, der keine Seite mehr vorankommen wird, aber auch die Medikamente, die nun überflüssiger nicht sein könnten und bald im Abfall landen werden, oder die Spezialkopfkissen und -matratzen, auf denen weder Kopf noch Körper je mehr ruhen werden; das Wasserglas, von dem er keinen Schluck mehr trinken wird, das Päckchen mit den verbotenen Zigaretten, in dem nur noch drei übrig sind, und die Pralinen, die man ihm gekauft hat und die keiner aufzuessen wagt, als wäre das Diebstahl oder Entweihung; die Brille, die niemand sonst gebrauchen kann, die wartenden Kleider, die tage- oder jahrelang im Schrank hängen werden, bis jemand sie herausnimmt, mit einer gehörigen Portion Mut; die Pflanzen, die die Verstorbene gewissenhaft pflegte und goss, um die sich vielleicht niemand kümmern will, und die Creme, die sie abends auftrug, im Töpfchen noch die Spuren ihrer weichen Finger; jemand wird allerdings das Fernrohr erben und mitnehmen wollen, mit dem der Tote so gern die Störche beobachtete, die auf dem fernen Turm nisteten, wer weiß, wofür es nun gebraucht werden wird, und auch das Fenster, durch das er blickte, wenn er die Arbeit kurz ruhenließ, wird ohne Blickenden bleiben, das heißt, ohne Aussicht; der Kalender, in den er Termine und Erledigungen eintrug, wird keine Seite vorgeblättert werden, und der letzte Tag bleibt ohne die abschließende Notiz, die bedeutet: ›Heute alles erledigt.‹ Die Dinge, die früher sprechend waren, sind nun stumm und ohne Sinn, als hätte sich ein Mantel über sie gebreitet, der sie zur Ruhe und zum Schweigen bringt, indem er sie glauben macht, dass die Nacht gekommen ist, oder als bedauerten auch sie den Verlust ihres Besitzers und verzagten sogleich im befremdlichen Bewusstsein ihres Arbeitsmangels, ihrer Nutzlosigkeit, als fragten sie sich im Chor: ›Was tun wir jetzt hier? Man wird uns wegräumen. Wir haben keinen Herrn mehr. Uns erwartet die Verbannung oder der Müll. Unsere Mission ist beendet.‹ Vielleicht hatten sich einige Monate zuvor die Dinge von Desvern so gefühlt. Luisa war kein Ding. Luisa also nicht.

Zwei Besucher kamen, auch wenn sie gesagt hatte »ich mach dir auf«, im Singular. Ich hörte die Stimme des ersten, den sie begrüßt hatte und der ihr den zweiten präsentierte, der offensichtlich unerwartet kam: »Hallo, ich bringe dir Professor Rico, ich wollte ihn nicht auf der Straße rumstehen lassen. Er muss sich die Zeit bis zum Abendessen vertreiben. Seine Verabredung

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