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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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ihre Kräfte, ihre Konzentration auf, vermutlich auch ihre Phantasie. Ich war für sie nichts als ein Ohr, in das sie ihr Unglück, ihre hartnäckigen Gedanken gießen konnte, ein jungfräuliches Ohr, doch austauschbar, das heißt, vielleicht nicht ganz: Ebenso wie dem Mädchen flößte ich ihr wohl ein Gefühl des Vertrauens, der Vertrautheit ein, und womöglich hätte sie sich mit einem Beliebigen nicht so offen ausgesprochen, nicht mit jedem Beliebigen. Schließlich hatte ich ihren Mann oft gesehen, verband ein Gesicht mit ihrem Verlust, wusste, welcher Fortgang der Grund für ihre Untröstlichkeit war, welche Gestalt ihr Blickfeld nicht mehr kreuzte, Tag für Tag, noch einer und noch einer, unweigerlich und einförmig bis zum Ende. Ich stammte sozusagen aus einem Vorher und war somit imstande, den Verstorbenen auf meine Art zu vermissen, auch wenn die beiden nie weiter auf mich geachtet hatten und Desvern es bis in alle Ewigkeit nicht mehr tun konnte, für ihn war ich zu spät gekommen, würde immer nur die junge Besonnene bleiben, der er wenig Beachtung geschenkt hatte, nur einen flüchtigen Blick. Und doch bin ich hier nur, weil sein Tod es mir gestattet, dachte ich verwundert. Hätte er sich nicht ereignet, ich wäre nicht bei ihm zu Hause, denn das hier ist sein Zuhause, hier hat er gelebt, dies war sein Wohnzimmer, vielleicht sitze ich gerade dort, wo er immer saß, von hier ist er an dem letzten Morgen aufgebrochen, an dem ich ihn sah, auch der letzte, an dem seine Frau ihn sah. Sie fand mich sympathisch, das war offensichtlich, und merkte, dass ich ihr wohlgesinnt war, mit ihr fühlte und litt; vielleicht spürte sie dunkel, dass wir unter anderen Umständen Freundinnen hätten sein können. Aber jetzt lebte sie wie im Innern eines Ballons, gesprächig, doch im Grunde einsam für sich, abgetrennt von allem Äußeren, ein Ballon, der noch lange nicht platzen würde. Erst dann würde sie mich richtig sehen können, erst dann wäre ich nicht mehr die junge Besonnene aus dem Café. Wenn ich sie jetzt gefragt hätte, wie ich hieß, hätte sie sich kaum erinnert oder nur an den Vornamen, nicht an den Nachnamen. Ich wusste auch nicht, ob es ein Wiedersehen, eine weitere Gelegenheit geben würde: Sobald ich aus der Tür wäre, würde ich für sie in einer Nebelwolke versinken.
    Sie ließ kein Hausmädchen antworten, obwohl zumindest eines dort arbeitete, es hatte sich bei meinem Eintreffen gemeldet. Sie stand auf, ging zur Tür und griff zum Hörer der Sprechanlage. Mich erreichte ein »Ja?«, dann ein »Hallo. Ich mach dir auf.« Es war ein guter Bekannter, den sie erwartete oder der jeden Tag um diese Zeit vorbeikam, ihre Stimme verriet nicht die geringste Überraschung oder Erregung, es konnte sogar der Junge vom Laden an der Ecke sein, der eine Bestellung brachte. Sie wartete an der offenen Tür, bis der Besucher den Vorgarten durchquert hatte, der zwischen Eingangstor und eigentlichem Haus lag, sie lebte in einer Art Villa oder Residenz, von denen es in Madrid in Zentrumsnähe kleine Siedlungen gibt, nicht nur in El Viso, auch jenseits des Castellana, in Fuente del Berro und anderswo, wundersam versteckt vor dem entsetzlichen Verkehr und dem ewigen Chaos rundum. Mir fiel auf, dass sie auch nichts von Deverne erzählt hatte. Sie hatte keine Erinnerung heraufbeschworen, nicht seinen Charakter, sein Naturell beschrieben, hatte nicht gesagt, wie sehr sie diese oder jene Eigenschaft, diese oder jene gemeinsame Gewohnheit vermisste oder wie sehr es sie – zum Beispiel – quälte, dass jemand nicht mehr lebte, der das Leben so genossen hatte, wie mein Eindruck von ihm gewesen war. Mir wurde klar, dass ich nicht mehr von dem Mann wusste als vor meinem Besuch. Als hätte sein unnatürlicher Tod alles Übrige verdüstert oder ausgelöscht, wie es bisweilen geschieht: Manch Ende ist so unerwartet oder schmerzlich, so verblüffend oder frühzeitig, so tragisch – bisweilen auch so bizarr oder lächerlich, so unheilvoll –, dass man von diesem Menschen unmöglich sprechen kann, ohne dass sein Ende ihn sofort verschlingt oder verseucht und die spektakuläre Todesart sein ganzes Leben eintrübt, es ihm gleichsam raubt, was ungerechter nicht sein könnte. Der grelle Tod beherrscht das Gesamtbild dessen, der ihn erlitt, so sehr, dass es Mühe kostet, sich an ihn zu erinnern, ohne dass sich über der Erinnerung sogleich diese letzte, vernichtende Tatsache zusammenbraut, oder ihn wieder präsent zu haben, wie er in der

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