Die sterblich Verliebten
ausgerechnet mit Hilfe seiner Frau, die noch tief in dem langsamen Prozess steckte, seinen Fortgang, seine Desertion zu überwinden; sie versuchte sogar, ihn zurückzuhalten, ein wenig länger noch, obwohl sie wusste, dass der Tag kommen würde, an dem ihr, so unwahrscheinlich es schien, sein Gesicht verschwamm oder zu einem der vielen Fotos erstarrte, die sie beharrlich weiter betrachten würde, mal mit benommenem Lächeln, mal unter Schluchzen, immer allein, immer geheim.
Doch jetzt erschien mir eher Díaz-Varela in der Rolle des Chabert. Der eine hatte Kummer und Mühen ohne Zahl erlitten, der andere hatte sie verursacht, der eine war Opfer von Krieg, Nachlässigkeit, Bürokratie und Unverständnis gewesen, der andere war zum Henker geworden und hatte das Weltall durch seine Grausamkeit, seinen vielleicht zwecklosen Egoismus, die entsetzlich leichte Schulter, auf die er das nahm, gewaltig aufgestört. Aber beide warteten sie auf eine Geste, eine Art Wunder, eine Ermutigung, eine Aufforderung, Chabert fast aussichtslos auf die abermalige Verliebtheit seiner Frau und Díaz-Varela auf die unwahrscheinliche Verliebtheit Luisas oder wenigstens auf ihr Trostsuchen an seiner Seite. In beider Erwartung, beider Geduld lag etwas Gemeinsames, wenn auch bei dem alten Soldaten Skepsis und Unglauben überwogen, bei meinem flüchtigen Geliebten Optimismus und Hoffnung oder vielleicht Dringlichkeit. Beide waren sie wie Gespenster, die Grimassen und Zeichen machten, sogar ein wenig harmloses Theater, und darauf warteten, gesehen, erkannt und vielleicht gerufen zu werden, sich danach sehnten, schließlich die Worte zu hören: ›Ja, schon gut, ich erkenne dich, du bist es‹, auch wenn sie im Fall Chaberts nur den Existenzbeweis bedeuteten, den man ihm verweigerte, bei Díaz-Varela jedoch weitaus mehr heißen würden: ›Ich will an deiner Seite sein, komm her und bleib, nimm den leeren Platz ein, komm zu mir und umarme mich.‹ Auch hatten beide gewiss ähnliche Gedanken, die ihnen Kraft verliehen, sie die ganze Zeit durchhalten ließen und davor bewahrten, sich geschlagen zu geben: ›Es kann nicht sein, dass ich erlebt habe, was ich erlebte, dass ich durch einen Säbelhieb auf den Schädel und die galoppierenden Hufe unzähliger Pferde getötet wurde und dennoch aus einem Berg von Toten auferstand, nach dieser langen, nutzlosen Schlacht, die vierzigtausend andere wie mich in wirkliche Leichen verwandelt hat, von denen ich eine hätte sein sollen, bloß eine mehr; es kann nicht sein, dass ich mich unter Mühen kurierte, endlich auf den Beinen halten und gehen konnte, dass ich jahrelang Europa durchwanderte, dabei unter der Not litt und dem Unglauben der anderen und jedem Schwachkopf gegenüber darauf beharren musste, dass ich noch ich selbst war, kein längst Verstorbener, auch wenn ich als solcher geführt wurde; und dass ich schließlich bis hierher gelangt bin, wo ich eine Frau hatte, Haus, Stellung und Vermögen, hier, wo ich einst lebte, damit nun der Mensch, den ich am meisten geliebt habe und der mich beerbte, nicht einmal zugibt, dass ich existiere, so tut, als kennte er mich nicht und mich zum Schwindler stempelt. Was für einen Sinn hätte es, meinen doppelt besorgten Tod überlebt zu haben, aus der Grube aufgetaucht zu sein, mit der ich mich als Wohnstatt bereits abgefunden hatte, nackt und unkenntlich, wie ich war, meinen Mitgefallenen vollkommen gleich, ob Offizier oder gemeiner Soldat, ob Landsmann oder sogar Feind, was für einen Sinn hätte all das, wenn dieser Weg für mich am Ende die Verleugnung bereithält, den Raub meiner Identität, meines Andenkens und all dessen, was mir nach dem Sterben widerfahren ist. Wie überflüssig mein Glück, das Gottesurteil, meine gewaltige Anstrengung, all das, was so sehr einem Schicksal glich …‹ Das dachte Oberst Chabert gewiss, als er durch Paris irrte und inständig bat, von Anwalt Derville empfangen und angehört zu werden, ebenso von Madame Ferraud, die durch seine Auferstehung nicht mehr seine Witwe, sondern seine Frau und zu ihrem Unglück somit wieder die ebenfalls begrabene und vergangene, die verhasste Madame Chabert war.
Díaz-Varela dachte seinerseits gewiss: ›Es kann nicht sein, dass ich getan habe, was ich tat, oder eher ausheckte und auf den Weg brachte, dass ich so lange gegrübelt habe, bis es mir nach nagendem Zweifeln gelang, einen Tod zu ersinnen, den meines besten Freundes, indem ich vortäuschte, ihn mehr oder weniger dem Zufall zu überlassen,
Weitere Kostenlose Bücher