Die sterblich Verliebten
weil sie so ungeheuerlich sind. Aber das war es im Grunde nicht, sondern etwas Seltsameres, da so wenig verbreitet: Die meisten sind bereit, ja sind entzückt, heimlich den Finger auszustrecken, anzuklagen, zu denunzieren, zu verpetzen, ihre Freunde, Nachbarn, Vorgesetzten, Chefs, die Polizei, die Behörden, sie wollen entdecken und bloßstellen, jede Art von Schuldigen, auch wenn sie es nur in ihrer Phantasie sind; wollen deren Leben zugrunde richten, wenn sie können, oder ihnen wenigstens Knüppel zwischen die Beine werfen, ihnen die Siechenklapper umhängen, sie wollen Ausschuss, Aussortierte, Verluste rundum, wollen aus ihrer Gesellschaft verstoßen, als tröstete es sie, wenn sie nach jedem Opfer, jedem erlegten Wild sagen können: ›Der wurde weggerissen, wurde entfernt, der ist gefallen, ich nicht.‹ Unter all den vielen gibt es ein paar wenige – tagtäglich schwindet unsere Zahl –, die wir im Gegenteil eine unsägliche Abneigung dagegen hegen, diese Rolle zu übernehmen, die Rolle des Denunzianten. Dieser Widerwille geht so weit, dass wir ihn selbst dann kaum überwinden können, wenn es geboten ist, zu unserem und aller Besten. Es widerstrebt uns, eine Nummer zu wählen und ohne Preisgabe unseres Namens zu sagen: ›Hören Sie, ich habe einen Terroristen gesehen, nach dem gefahndet wird, sein Foto war in der Zeitung, gerade ist er in das Haus da gegangen.‹ Wahrscheinlich täten wir es in einem solchen Fall, denken dabei jedoch mehr an die Verbrechen, die wir dadurch verhindern, als an die Bestrafung der bereits begangenen, denn denen kann niemand mehr abhelfen, und die Straflosigkeit in der Welt ist so unermesslich, hat sich so sehr in der Zeit, in der Länge und Breite ausgedehnt, dass es uns eigentlich egal ist, ob sie noch einen weiteren Millimeter wächst. So merkwürdig und schlimm es klingt, es kann passieren: Wir, die wir diese Abneigung empfinden, sind manchmal lieber ungerecht und sehen lieber etwas unbestraft, bevor wir zu Denunzianten werden, denn das ertragen wir nicht, letztlich ist die Gerechtigkeit nicht unsere Sache, wir müssen nicht ungefragt eines Amtes walten; und noch verhasster wird uns die Rolle, wenn jemand demaskiert werden soll, den man geliebt hat, schlimmer noch: jemand, den man, so unerklärlich es auch erscheint – sosehr es uns graut und ekelt vor unserem Gewissen oder Wissen, das uns allerdings mit jedem Tag, der kommt und geht, weniger bestürzt –, nicht gänzlich aufgehört hat zu lieben. Und da denken wir etwas, was sich nicht wirklich artikuliert, ein wirres, sich wiederholendes Gestammel, fast fieberhaft, ungefähr so: ›Ja, es ist schlimm, sehr schlimm. Aber er ist doch er, noch immer er.‹ Während dieser Zeit des Wartens oder des unausgesprochenen Abschieds gelang es mir nicht, Díaz-Varela als künftige Gefahr zu sehen, für niemanden, nicht einmal für mich, die ich ihn flüchtig gefürchtet hatte und es bisweilen auch in seiner Abwesenheit noch tat, wenn ich zurück- oder vorausdachte. Vielleicht war ich zu optimistisch, aber ich hielt ihn nicht für fähig, es wieder zu tun. Für mich war er weiterhin ein Amateur, ein Gelegenheitstäter. Im Grunde ein normaler Mensch, der eine einzige Ausnahme gemacht hatte.
Am vierzehnten Tag rief er auf dem Handy an, ich war gerade im Verlag bei einer Sitzung mit Eugeni und einem mitteljungen Autor, den uns Garay Fontina empfohlen hatte, als Lohn für all die Schmeicheleien, mit denen er ihn in seinem Blog und in einer von ihm persönlich herausgegebenen Literaturzeitschrift umwarb, die somit prätentiös und ziemlich unmaßgeblich war. Ich ging kurz aus dem Zimmer und sagte, ich würde später zurückrufen, worauf er sich nicht zu verlassen schien, denn er ließ sich noch nicht abschütteln.
»Nur ganz kurz«, sagte er. »Wie wär’s, wenn wir uns heute treffen? Ich war ein paar Tage verreist und habe Lust, dich zu sehen. Wenn du magst, erwarte ich dich nach der Arbeit bei mir.«
»Womöglich dauert es heute länger, hier geht es drunter und drüber«, ich erfand aus dem Stegreif, wollte es mir überlegen oder mich zumindest erst an den Gedanken gewöhnen, ihn wiederzusehen. Ich wusste immer noch nicht, was mir lieber war, seine erhoffte und unverhoffte Stimme brachte mir Unruhe und Erleichterung, doch schnell gewann der Stolz die Oberhand, weil ich mich begehrt fühlte, weil er mich noch nicht ad acta gelegt hatte, mich noch beachtete, mich nicht totschwieg, noch wurde ich nicht ausgeblendet. »Ich gebe
Weitere Kostenlose Bücher