Die sterblich Verliebten
Erinnerung manchmal etwas Verzehrendes an sich hat.«
Es war mir im Gedächtnis geblieben oder von diesem ausgegraben worden, weil Athos’ Worte im Laufe des Lebens immer wahrer werden: Man kann in einem Anschein von Frieden leben oder zumindest nach vorne schauen, wenn man denjenigen verstorben und nicht mehr auf Erden wähnt, der uns großen Schaden oder Kummer zugefügt hat; wenn er nur noch Erinnerung ist, kein lebendiges Wesen mehr, das atmet und mit giftigen Schritten die Welt durchmisst, das wir jederzeit treffen oder sehen könnten; und wüssten wir, dass dieser Jemand noch im Hinterhalt liegt – noch unter uns ist –, würden wir ihn um jeden Preis meiden oder, was noch quälender ist, ihn für das Böse zur Rechenschaft ziehen wollen. Der Tod dessen, der uns tödlich verletzt hat – ein übertriebener Ausdruck, der zum Gemeinplatz geworden ist –, heilt uns nicht völlig, bringt uns kein Vergessen, Athos selbst trug sein uraltes Leid auch unter dem Musketiermantel und seiner neuen Identität; aber es beschwichtigt uns, lässt uns weiterleben, leichter atmen, wenn uns nur noch eine Erinnerung heimsucht und das Gefühl bleibt, die Rechnungen in dieser Welt, der einzigen, beglichen zu haben, sosehr die Erinnerung weiter schmerzen mag, wann immer man sie heraufbeschwört, wann immer sie sich ungerufen einstellt. Dagegen kann das Wissen unerträglich sein, dass man noch Luft und Zeit mit demjenigen teilt, der uns das Herz gebrochen, uns betrogen oder verraten hat, der uns das Leben ruiniert, uns allzu sehr oder allzu gewaltsam die Augen geöffnet hat; es kann uns lähmen, dass dieses Wesen noch lebt, dass es weder niedergeschmettert noch an einem Baum erhängt wurde, sondern wieder auftauchen kann. Das ist ein weiterer Grund dafür, dass die Toten nicht wiederkehren sollten, zumindest nicht die, deren Totsein uns erleichtert und vorwärtszugehen erlaubt, wenn man will als Gespenster, nachdem wir unser früheres Ich begraben haben: Sowohl Athos als auch Mylady, sowohl der Graf de la Fère als auch Anne de Breuil stützten sich all die Jahre auf den Glauben, dass der andere nur ein Toter war, kein Blatt mehr zum Erzittern brachte, nicht einen Atemstoß mehr von sich gab; ebenso Madame Ferraud, die ungehindert ihr Leben neu begann, weil ihr Mann, der alte Oberst Chabert, für sie zweifellos nur noch eine Erinnerung war, die nicht einmal etwas Verzehrendes hatte.
›Wäre Javier doch tot‹, bei diesem Gedanken ertappte ich mich an dem Abend, während ich einen Fuß vor den anderen setzte. Fiele er doch tot um und öffnete mir beim Klingeln nicht, läge auf dem Boden, für immer reglos, hätte nichts mehr mit mir zu besprechen, wäre nicht mehr ansprechbar. Wenn er tot wäre, würden sich meine Zweifel und Ängste zerstreuen, ich müsste mir seine Worte nicht anhören, mir nicht zurechtlegen, was tun. Ich könnte auch nicht in Versuchung geraten, ihn zu küssen oder mit ihm ins Bett zu gehen, indem ich mich mit dem Gedanken betrüge, dass es das letzte Mal sein wird. Ich könnte für immer schweigen, müsste mich nicht um Luisa sorgen, noch weniger um die Gerechtigkeit, könnte Deverne vergessen, letztlich kannte ich ihn nicht einmal, nur vom jahrelangen Sehen, vom Sehen beim Frühstück. Wenn der, der ihm das Leben nahm, es ebenfalls verliert und zur Erinnerung wird, wenn es kein lebendiges Wesen mehr zum Anklagen gibt, dann fallen die Folgen weniger ins Gewicht, was macht es dann schon, was geschah. Wozu etwas sagen, etwas erzählen, ja wozu nachforschen, schweigen ist das Friedfertigste, es lohnt nicht, die Welt noch mehr mit den Geschichten derer aus den Fugen zu bringen, die schon Leichen sind und eine Spur Erbarmen verdienen, wenn auch nur, weil sie ihren Weg hinter sich haben, ans Ende gelangt sind und nicht mehr existieren. Wir leben nicht mehr in Zeiten, in denen alles gerichtet werden oder zumindest ans Licht kommen muss; zahllos sind heute die Verbrechen, die niemals erhellt, niemals bestraft werden, weil man nicht weiß, wer sie womöglich begangen haben könnte – so viele sind es, dass es nicht genügend Augen gibt, um in die Runde zu schauen –, und selten findet sich einer, den man auch nur mit einem Funken Überzeugung auf die Anklagebank setzen kann: Terroranschläge, Frauenmorde in Guatemala oder in Ciudad Juárez, Abrechnungen zwischen Drogenhändlern, blindwütige Gemetzel in Afrika, Luftangriffe auf zivile Ziele mit unseren ferngesteuerten Flugzeugen ohne Piloten und somit ohne
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