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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Gebieter der Ländereien, und wer wäre einer Fremden zu Hilfe geeilt, einer Unbekannten, von der man nichts als ihren wahren oder falschen Namen wusste, Anne de Breuil? Aber nein, »der Narr, der Schwachkopf, der Esel!« musste sie heiraten, wie Athos seinem früheren Ich vorwirft, dem so redlichen wie grausamen Grafen de la Fère, der gleich nach Entdeckung des Betrugs, der Schändlichkeit, des unauslöschlichen Makels allen Nachforschungen, allen widerstreitenden Gefühlen, allem Schwanken, Aufschieben und Bemitleiden Einhalt gebietet – wenn auch nicht der Liebe, denn er liebte sie weiterhin, erholte sich jedenfalls nie davon –, und ohne der Gräfin Gelegenheit zu geben, sich zu erklären oder zu verteidigen, abzustreiten oder ihn umzustimmen, Milde zu erflehen oder ihn ein weiteres Mal zu bezirzen, ja nicht einmal ›später zu sterben‹, wie es vielleicht auch der gemeinsten Kreatur auf Erden zusteht, tut er dies, er »band ihr die Hände auf den Rücken und hängte sie an einem Baum auf«, ohne zu zögern. D’Artagnan ist entsetzt, er ruft: »Himmel! Athos! Ein Mord!« Worauf Athos geheimnisvoll oder eher rätselhaft antwortet: »Ja, ein Mord, mehr nicht«, dann verlangt er Wein und Schinken und erachtet die Erzählung für beendet. Das Geheimnisvolle, sogar Rätselhafte liegt in diesem »mehr nicht«, auf Französisch
pas davantage.
Athos weist d’Artagnans empörten Aufschrei nicht zurück, rechtfertigt sich nicht, berichtigt ihn nicht mit den Worten ›nein, es war bloß eine Hinrichtung‹ oder ›es war ein Akt der Gerechtigkeit‹, versucht nicht einmal begreiflicher zu machen, was ihn zu dem übereilten, unbarmherzigen, vermutlich einsamen Aufhängen der Frau geführt hat, die er liebte, bestimmt waren nur sie beide dort im Wald, ein spontaner Akt ohne Zeugen, ohne Rat, Hilfe, Appellinstanz: ›Er war blind vor Zorn, konnte sich nicht zurückhalten; musste Rache nehmen; bereute es sein Leben lang‹, auch derlei antwortet er nicht. Er gibt zu, dass es ein Mord war, ja, aber »mehr nicht«, nur das, nichts Abscheulicheres, als wäre der Mord nicht das Schlimmste, was man sich vorstellen kann, oder so gang und gäbe, dass er weder zu Empörung noch Überraschung Anlass gibt, was im Grunde den Ansichten von Anwalt Derville entsprach, der sich mit dem Fall des lebenden Toten beschäftigte, der tot zu bleiben hatte, des alten Obersten Chabert, und der wie so viele in seinem Beruf »nur Mal um Mal die gleichen niedrigen Triebe« sah, die durch nichts gebessert wurden, die Kanzleien verwandelt in »Kloaken, die niemand mehr reinigen kann«: Der Mord ist allgegenwärtig, jeder ist dazu fähig, es gibt ihn seit der Nacht der Zeiten und wird ihn geben, bis auf den letzten aller Tage keine Nacht mehr folgt und keine Zeit mehr bleibt, die ihn beherbergen könnte; der Mord ist etwas Alltägliches, Nichtssagendes, Vulgäres, gehört einfach zur Zeit; Presse und Fernsehen in der ganzen Welt sind voll von ihm, wozu all das Geschrei, all das Entsetzen, so viel Aufhebens. Ja, ein Mord. Mehr nicht.
    Weshalb kann ich nicht sein wie Athos oder der Graf de la Fère, der er zunächst war und dann nicht mehr?, fragte ich mich, immer noch im Embassy, umhüllt vom anhaltenden Gesumm der Damen, die in rasendem Tempo sprachen, darunter vereinzelt ein faulenzender Diplomat. Weshalb kann ich die Dinge nicht ebenso klar sehen und dementsprechend handeln, zur Polizei oder zu Luisa gehen und ihnen erzählen, was ich weiß, genug, damit sie herumstöbern, ermitteln, sich Ruibérriz de Torres schnappen, für den Anfang zumindest? Weshalb bin ich nicht imstande, dem Mann, den ich liebe, die Hände auf den Rücken zu binden und ihn kurzerhand an einem Baum aufzuhängen, da ich doch weiß, dass er ein abscheuliches Verbrechen begangen hat, alt wie die Bibel, aus gemeinen Motiven und obendrein feige, weil er sich mehrerer Mittelsmänner bediente, die ihn schützen, ihr Gesicht für ihn hinhalten, wie dieser arme Teufel ohne Verstand, wehrlos, ihm auf ewig ausgeliefert? Nein, es ist nicht an mir, so rigoros zu sein, denn ich besitze auf Erden weder die hohe noch die niedere Gerichtsbarkeit, und außerdem kann der Tote nicht sprechen, der Lebendige dagegen schon, er kann sich erklären, kann überzeugen und begründen, ist sogar fähig, mich zu küssen, mit mir zu schlafen, während jener nichts sieht, nichts hört, verfault und nicht antwortet, nicht mehr eingreifen oder bedrohen, mir nicht die geringste Lust mehr bereiten kann;

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